Essen. . Die Generation Multikulti schafft sich eine sprachliche Heimat: „Kiezdeutsch“. Aber zeugt dieser multikulturell geprägte Jugendslang nun von „schlechtem“ Deutsch? Oder entsteht hier, vor unseren Ohren, ein neuer Dialekt? Die Jugendlichen selbst schämen sich oft für ihren Sprache.
„Lassma Kino gehen.“ – „Ich frag mein Schwester. Danach ich ruf dich an.“ Ein typischer Wortwechsel – aufgezeichnet in Kreuzberg, denkbar von Marxloh bis zur Dortmunder Nordstadt. Aber zeugt dieser multikulturell geprägte Jugendslang nun von „schlechtem“ Deutsch? Oder entsteht hier, vor unseren Ohren, ein neuer Dialekt?
Die Potsdamer Professorin Heike Wiese untersucht in ihrem Buch „Kiezdeutsch“ die Mundart Kreuzberger Jugendlicher. Sie sieht die Sprache der Generation Multikulti Seite an Seite mit Bayrisch, Sächsisch, Schwäbisch. Dafür wird sie scharf angegriffen. So sieht der „Verein für Deutsche Sprache“ im Jugend-Slang ein Zeichen für Sprachverfall, der auch von Lehrern beklagt wird. Sprachforscher aber stützen Wieses Sichtweise.
Neue Möglichkeiten der Wortstellung; „Jetzt isch hasse ihn“
Liest man Heike Wieses Analyse, dann rückt Kiezdeutsch weit ab von der wütenden „Kanak Sprak“, der einst Autor Feridun Zaimoglu ein schriftliches Denkmal setzte. Kiezdeutsch habe, wie andere europäische Jugendsprachen, „charakteristische Eigenheiten“: Fremdwörter aus dem Türkischen oder Arabischen wie „yallah!“ („los!“). Neue Strukturwörter wie „lassma“, „ischwör“. Neue Möglichkeiten der Wortstellung – „Jetzt isch hasse ihn.“ Wiese zeigt dabei eindrucksvoll auf, dass viele Neuschöpfungen „typisch deutsch“ sind. So hat sie bei ihren eigenen Studenten in der S-Bahn Sätze gehört wie „Wir sind gleich Alexanderplatz.“ Und auch im Hochdeutschen gäbe es Verkürzungen ähnlich jener in „mein Schwester“.
„Kiezdeutsch ist kein Zeichen des Verfalls“
„Heimat auf der Zunge“ nennt Karl-Heinz Göttert, emeritierter Kölner Germanistik-Professor, die deutschen Dialekte. Und wenn Jugendliche aus vielen Ländern eine neue Heimat suchen? Dann entsteht ein neuer Dialekt! „Kiezdeutsch ist kein Zeichen des Verfalls“, betont Göttert. Er hält Wieses Arbeit aus wissenschaftlicher Sicht für „absolut überzeugend“ und freut sich, „dass der Dialekt letztlich nicht kleinzukriegen ist“.
In seinem aktuellen Buch „Alles außer Hochdeutsch“ zeigt er beruhigend auf, dass letztlich jede Sprache selbst Dialekt sei – so entstanden auch Griechisch oder Sanskrit einst als Varianten des Indogermanischen. Im Deutschen seien die an sich „sterbenden“ Dialekte heute ein „kultureller Fundus“. Sie würden bewusst benutzt, um „Solidarität zu signalisieren oder Fremdheit abzubauen“.
Behindert der Slang das Sprachvermögen der Jugendlichen? Dialekt ist Karl-Heinz Göttert zufolge keine Alternative zur Hochsprache, sondern eine Ergänzung. Diese Erfahrung machte auch Heike Wiese. „Für uns war es schwierig, das Kiezdeutsch überhaupt aufzuzeichnen“, sagt sie – weil die Kreuzberger Jugendlichen im Labor plötzlich Hochdeutsch sprachen. „Deshalb haben wir ihnen die Aufnahmegeräte mitgegeben und sie gebeten, einzuschalten, wenn sie unter sich sind.“ Und trotz des Variantenreichtums würden die Jugendlichen ihren Dialekt selbst negativ bewerten, sich schämen: „Sie übernehmen die Außensicht auf ihre Sprechweise“.
Diese aber entstünde vor allem deshalb, „weil die multiethnischen bei uns auch die sozial schwachen Wohngebiete sind“. Wie gut das Hochdeutsch der Schüler sei, hänge nicht davon ab, ob die Jugendlichen Kiezdeutsch sprächen. Sondern, so Wiese, vom „individuellen“ Schulerfolg. „Sprech isch so deutsch so“ – diesen Satz kann ein Kreuzberger Schüler im Zweifelsfall auch dialekt- und akzentfrei.