Essen. . Der chinesische Dissident, der am 23. Juni aus der Haft entlassen wurde und eigentlich keine Interviews mehr geben darf, kündigt in einem Parteiorgan der KP an, weiter von seinen Rechten Gebrauch zu machen – und warnt vor einem revolutionären Umbruch
Seine Musik ist die Stille, sagt er. Aber sein Lieblingswort ist „handeln“. Und wenn man ihn fragt, was er mag, sagt er: „Die unvertraute Wirklichkeit. Den Zustand der Unruhe.“ Da ist es fast verständlich, dass Ai Weiwei, der einzige weltberühmte Künstler Chinas, nun ausgerechnet dem Partei-Propagandablatt „Global Times“ ein Interview gegeben hat – obwohl ihm die Behörden nach seiner Freilassung aus wochenlanger Haft Interviews verboten haben.
Wichtigstes Material ist der Mut
Aber es dürfte selbst den Behörden gefallen haben, dass Ai in der „Global Times“ vor einer „radikalen Revolution“ warnt, das sei nicht der richtige Weg, um Chinas Probleme zu lösen. Gleichwohl redet Ai auch davon, dass es „viele Ungerechtigkeiten“ in China gebe und kündigt an, auch künftig „auf bestimmte Rechte“ nicht verzichten zu wollen.
Denn das wichtigste Material des Künstlers Ai Weiwei ist sein Mut. Das spricht auch aus den Interviews, die der Kurator Hans Ulrich Obrist seit Mitte der 90er-Jahre mit Ai geführt hat und die nun in Buchform vorliegen. Mit dem Gestus der Bescheidenheit betont Ai immer wieder, dass er mit allem was er sagt und tut, nur Rechte und Freiheiten in Anspruch nimmt, die in China offiziell längst gewährt werden.
Wie im wirklichen Leben kommt Ai Weiwei auch in seinen Antworten wie ein Mensch gewordener Widerspruch daher; ausgerechnet dieser hochpolitische Künstler stellt seinen Blog unter das L’art-pour-l’art-Motto „Man braucht einen Zweck, um sich selbst auszudrücken, aber dieser Ausdruck ist selbst schon Zweck.“ Nicht von ungefähr sieht es so aus, als habe sich Ais Leben längst in eine Dauer-Performance verwandelt.
Keine Pläne machen
Die Interviews gehen zurück bis in die Wüste Gobi, wo Ai aufwuchs, als sein Vater, der Lyriker Ai Qing, verbannt wurde. Sie erklären den Erfolg, den Ai Weiwei mit seinem selbstentworfenen Atelier aus Ziegelsteinen in der internationalen Architekturwelt hatte, obwohl er kein Architekt war. Ai hat keine Furcht, vor nichts und niemandem. Auch nicht davor, jahrtausende alte Vasen zu zerdeppern oder in Farbe zu tauchen, um auch aus dieser Provokation künstlerische Funken zu schlagen.
Oft genug hat er gar keinen Plan, sein Genie beruht auf einem untrüglichen Instinkt für wirksame, medientaugliche Reaktionen mit maximalem Provokationsgehalt: „Wenn man Pläne hat, hat man nur einen Versuch. Wenn man keine Pläne hat, geht das Ganze oft gut, weil man sich an der Situation orientiert hat.“
Ai hat keine Angst vorm Scheitern, und davor haben Chinas Behörden die meiste Angst. So sind am Ende sie es, deren Verhalten das eigentliche Rätsel aufgibt. Ai Weiwei schafft es dagegen immer wieder, als Lösung dazustehen.