Mülheim. Roberto Ciullis Collage „Io so“ im Theater an der Ruhr beginnt episch. Und offenbart die Schauspiel-Größe von Eva Mattes.

Der entsetzliche Tod des italienischen Schriftstellers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini mit 53 Jahren ist bis heute nicht aufgeklärt, ein Justizskandal eigenen Ranges. Ein Gelegenheits-Stricher habe den bekennenden Homosexuellen in einer öden Gegend des römischen Hafenorts Ostia so zugerichtet, dass nur noch ein Klumpen Fleisch und Blut übrigblieb – das war lange Zeit die offizielle Erklärung für den Mord. Am Ende seines Lebens widerrief der angebliche Täter, der längst wieder aus dem Gefängnis freigekommen war, sein Geständnis. Dass Pasolini mit seinem eigenen Alfa Romeo mehrfach überfahren worden sein soll, wurde immer zweifelhafter. Spätere forensische Untersuchungen erbrachten Spuren von fünf verschiedenen Menschen, ohne dass die des verurteilten Strichers darunter gewesen wäre.

„Pasolini.  Io so – Mitteilungen an die Zukunft“ von Roberto Ciulli nach Texten von Pasolini beginnt mit Erzähl-Theater. Im Bild: Maria Neumann, Klaus Herzog, Albert Bork, Bernhard Glose und Fehat Keskin, 
„Pasolini. Io so – Mitteilungen an die Zukunft“ von Roberto Ciulli nach Texten von Pasolini beginnt mit Erzähl-Theater. Im Bild: Maria Neumann, Klaus Herzog, Albert Bork, Bernhard Glose und Fehat Keskin,  © THEATER AN DER RUHR | Franziska Götzen

Dass es sich bei den Tätern um einen rechtsradikalen Schlägertrupp gehandelt haben soll, hatte Oriana Fallaci, die bekannte italienische Journalistin, bereits kurz nach der Bluttat geschrieben, freilich ohne es beweisen zu können. Möglicherweise hat Pasolinis erst postum 1992 veröffentlichtes Romanfragment „Petrolio“ eine nebulöse Rolle gespielt: Es zeichnet ein düsteres Geflecht von staatlicher Erdöl-Industrie, führenden Politikern, der Mafia und Morden an missliebigen Kritikern. Das 21. Kapitel des Romans wurde Pasolini zu Lebzeiten gestohlen und verschwand; allerdings rühmte sich der fanatische Büchersammler Marcello Dell‘Utri, der als rechte Hand Berlusconi dessen Verbindung zur Mafia war, er habe das verschwundene 21. Kapitel gelesen.

Roberto Ciulli beginnt in „Io so“ mit epischem Theater der anderen Art und findet dann doch zu einem Bilderreigen

Das Bühnen-Denkmal, das der 90-jährige Roberto Ciulli seinem Landsmann nun im Theater an der Ruhr setzt, scheint zunächst nur die Reihe von Fernseh-Dokumentationen, Zeitungsartikeln und Büchern, die sich mit dem Fall befasst, fortschreiben zu wollen. Und das keineswegs mit Szenen im vertrauten Ciulli-Stil, sondern eine ganze Weile lang mit epischem Theater der anderen Art.

Nachdem ein Sprecher der italienischen Abendnachrichten vom Allerseelen-Tag 1975 schwarz-weiß über eine Leinwand geflimmert ist, gefolgt von verwackelten Aufnahmen vom Tatort und von Zeugenberichten, erzählen fünf Menschen im Wechsel vom Tod Pasolinis und den Umständen seiner dubiosen „Aufklärung“. Sie hocken auf schlichten Stühlen, die einem spartanisch-antiquierten Büro entliehen sein könnten. Später werden die fünf an ebenso spartanischen Tischen sitzen, meist schlafend (Ausstattung: Elisabeth Strauß).

„Io so“ könnte Pasolinis Todesurteil gewesen sein. Eva Mattes spielt seine Mutterfigur grandios

Erst nachdem der eindringliche italienische Cantautore Fabrizio de André „Una storia sbagliata“ (Eine verkehrte Geschichte) vom Band erklungen ist, beginnt eine Collage von Pasolini-Texten mit der für ihn typischen Verschränkung von Poesie und Gesellschaftsanalyse, Selbsterkundung und tiefem Wahrheitsdrang: „Io so“, ich weiß, ist ein Essay Pasolinis über heimliche Machenschaften der Mächtigen überschrieben, und es könnten die Worte sein, mit denen er sein eigenes Todesurteil gesprochen hat.

Noch einmal lebt sein Verdacht von einem zweiten, viel besser kaschierten Faschismus auf, seine Ahnungen über Hintergründe von politischen Morden. Aber auch die unbändige Liebe zu seiner Mutter – in Gedichten, die Maria Neumann rezitiert. Ein Engel mit blutigen Federkielen steigt herab und bringt einen Fußball mit, den Pasolini als universelle Sprache verstand, weshalb die Akteure von einer Kicker-Pantomime ins Tanzen verfallen. Der Engel (Mohammad Saad Kharouf mit brillanter Körperbeherrschung) wird später schier endlos wie eine Mischung aus Derwisch und Spieluhrfigur um sich selbst kreisen.

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In diesen Bildern voller surrealer Bühnenmagie, in denen hinter einer Leinwand auch an einem Christus-Fresko für eine Kuppel gearbeitet wird, verkörpert Eva Mattes Pasolinis Mutter mit all der Präsenz und Bewegungsintelligenz einer wirklich großen Schauspielerin. Wie sie sich wälzt auf dem Tisch in einer Orgie der Zärtlichkeit! Betatscht, umarmt, gestreichelt... Und wie sie dann wortwörtlich reinen Tisch macht mit dieser Abendmahls-Tafel! Deren Tuch schien zuvor den Leichnam Pasolinis abzudecken. Und nun bildet es, kunstvoll gerafft, einen Körper in ihren Armen, als wiege Maria ihren toten Sohn. Das schießt im Anspielungsreichtum vielleicht ein bisschen übers Ziel hinaus, hallt aber noch weit über den langen, erst allmählich anschwellenden Uraufführungsbeifall nach.

Eva Mattes in „Pasolini. Io so - Mitteilungen an die Zukunft“ von Roberto Ciulli nach Texten von Pier Paolo Pasolini.
Eva Mattes in „Pasolini. Io so - Mitteilungen an die Zukunft“ von Roberto Ciulli nach Texten von Pier Paolo Pasolini. © THEATER AN DER RUHR | Franziska Götzen

Weitere Termine: 8. Februar (ausverkauft), 9. Februar (18 Uhr; inklusive Nachgespräch bei einem Negroni mit Roberto Ciulli, Dramaturgin Paola Barbon und dem Ensemble), 23. Februar (16 Uhr), 27. Februar (19:30 Uhr, wiederum mit Nachgespräch bei einem Negroni), 28. Februar (19:30 Uhr) sowie 13. März (19:30 Uhr; Roberto Ciulli und Eva Mattes sprechen im Anschluss über die Geheimnisse des Spielens). Karten: Tel. 0208 599 01 88; www.theater-an-der-ruhr.de