Recklinghausen. Nicht nur die Kunst aus dem Ruhrgebiet war revolutionär in der Nachkriegszeit. Auch im Ausstellungs-Design lag der junge Westen vorn.

Schon dass im Mai 1950 der alte Hochbunker aus Weltkriegstagen gegenüber dem Hauptbahnhof von Recklinghausen zur Kunsthalle erklärt wurde, war ein hochsymbolischer Akt: Auf den Relikten und Trümmern von zwölf kunstfeindlichen Jahren kam die Moderne ins Nachkriegsdeutschland. Die erste Ausstellung der Künstlergruppe „junger westen“ wurde 1947 noch in der Lebensmittelabteilung des örtlichen Kaufhauses Althoff eingerichtet – es gab ohnehin wenig Lebensmittel und viel Platz.

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Aber auch in den Ausstellungen der neu gegründeten Kunsthalle (das alte Vestische Museum der Stadt war erst in der Raub-Aktion „Entartete Kunst“ geplündert und dann von einer Weltkriegs-Bombe getroffen worden) gab es manchmal auch Toaster, Tische und den neusten elektrischen Waschbottich zu sehen. Dem Publikum sollte ins Auge springen, dass gute Kunst und gut gestalteter Alltag sehr viel miteinander zu tun haben.

Kunsthallen-Chef Thomas Grochowiak war gelernter Dekorationsmaler in einem Kaufhaus

Zum 75. Geburtstag wandelt die Recklinghäuser Kunsthalle in den Spuren ihrer Vergangenheit, steckt aber mit dem Kopf sehr in der Gegenwart. Nico Anklam, der die Kunsthalle seit dreieinhalb Jahren leitet und sie in jeder Hinsicht frisch durchlüftet hat, richtet in einer Jubiläumsschau gemeinsam mit den Kuratorinnen Kerstin Weber-Baumann und Lara Müller den Blick auf die wirklich revolutionären Präsentationsformen der jungen Kunsthalle: Nicht nur die Kunst war radikal neu, auch die Art und Weise, sie zu zeigen.

Tapetenmuster-Entwürfe des Mülheimer Malers Heinrich Siepmann in einer nachgebauten Ausstellungsvitrine unter Tütenlampen.:
Tapetenmuster-Entwürfe des Mülheimer Malers Heinrich Siepmann in einer nachgebauten Ausstellungsvitrine unter Tütenlampen.: "Die Anfänge: radical innovations" in der Kunsthalle Recklinghausen.  © Kunsthalle Recklinghausen | Caroline Schlüter

Zwei abstrahierte Maschinen-Bilder des Malers und langjährigen Kunsthallen-Chefs Thomas Grochowiak (1914-2012) sind da durch ein kunstvolles Drahtgeflecht miteinander verbunden. Tapetenentwürfe des Malers Heinrich Siepmann (1904-2002) hängen da in Vitrinen, die von oben mit Tütenlampen erleuchtet werden – in Augenhöhe, wie man es heute niemals machen würde, wie es aber auch aus Kinder- und Rollstuhl-Perspektive doch sehr gut funktioniert.

Hal Busse, Natalia Dumitresco und Emil Cimiotti, Otto Herbert Hajek und Gustav Deppe

Grochowiak, gelernter Dekorationsmaler mit Anfängen im Kaufhaus, wusste, dass in der Wahrnehmung fast alles davon abhängt, wie etwas präsentiert wird. Gestufte Sockel staffeln Skulpturen so, dass jede einzelne in der Gruppe heraussticht. Ein roter Rahmen auf der Wand lässt den dünnen Holzrahmen eines Bildes gülden wirken... Bilder vor gerafften Vorhängen, Bilder vor exakt gestaffelten Latten-Reihen – es gab so viel mehr als nur die bloßen Wände, und der weiße Würfel war noch weit weg.

Links ein Nagel-Relief von Hal Busse vor „Sputnik“-Stühlen, rechts ein Stempelbild von ihr auf dem Anthrazit-Grau, das die Wandfarbe dieser Ausstellung bildet.
Links ein Nagel-Relief von Hal Busse vor „Sputnik“-Stühlen, rechts ein Stempelbild von ihr auf dem Anthrazit-Grau, das die Wandfarbe dieser Ausstellung bildet. © Kunsthalle Recklinghausen | Caroline Schlüter

Aber die Ausstellung „Radical Innovations“ ist keine bloß historische Rekonstruktion von innovativem Ausstellungsdesign früherer Zeiten. Im Erdgeschoss sind zwar noch die alten Helden des „jungen westens“ sinnfällig in Szene gesetzt, auch die Bildhauer Emil Cimiotti, Otto Herbert Hajek oder der Maler Gustav Deppe. In den beiden Geschossen darüber ist jedoch vor allem Kunst von Frauen zu sehen. Frauen, deren Arbeiten schon in der Kunsthalle ausgestellt, aber nie angekauft wurden (weil sich auch der Galerienhandel mit Kunst von Frauen nicht lohnte).

Gefördert durch das NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerium: Die Geschichte der Kunsthalle 1950-59

Man fragt sich, warum: Neben dem atemverschlagenden, effektvoll kolorierten Nagelbild von Hal Busse (1926-2018), das hier zu sehen ist, würden Werke von Günther Uecker aus dieser Zeit verblassen. Busses Nagelrelief hängt vor drei „Sputnik“ genannten, ebenfalls in der Luft hängenden Stühlen. Eine „Composition“ der Rumänin Natalia Dumitresco atmet nicht weniger tachistischen Zeitgeist als Gemälde von Hans Werdehausen, von dem man für die Ausstellung ein Wandbild nach alten Fotografien zu rekonstruieren versucht hat. Claire Falkensteins Skulptur aus verkohltem Bambus und Draht spielt gewiss in derselben Liga wie das Relief von Ernst Hermanns.

Zur Ausstellung

Die Anfänge: Radical Innovations. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25–27, 45657 Recklinghausen. Bis 6. April. Geöffnet: Di-So 11-18 Uhr, Eintritt: 5 €, erm. 2,50 €. Am 23. und 24. Januar findet ein Symposium Radical Displays statt. Mehr unter: www.kunsthalle-recklinghausen.de

Die realhistorischen Grundlagen der Schau lieferte das Forschungsvolontariat der Kuratorin Lara Müller, die mit Unterstützung des NRW-Kultur- und Wissenschaftsministeriums zwei Jahre lang die Sammlungsgeschichte der Kunsthalle zwischen 1950 und 1959 aufgearbeitet hat. Es ist die Zeit, in der das Ruhrgebiet nicht nur in der Kohleförderung vorn lag. Hier wurde auch moderne Kunst gefördert, nicht zuletzt durch ein avantgardistisches Ausstellungsdesign. Und es zeigt sich auch: gutes Ausstellungsdesign ist zeitlos.

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