Duisburg. Der Duisburger Buchhändler Friedemann Vietor verlor erst seine Stimme. Nun ist er Influencer auf TikTok und Werbegesicht der Deutschen Bahn.

Dies ist die Geschichte von Friedemann Vietor und eigentlich sollte er sie selbst erzählen. Das liegt vor allem an seiner Stimme. Ein sonorer Bariton, einschmeichelnd, beruhigend und doch fesselnd, weil er allein damit verschiedene Rollen spielen kann. Nie aufdringlich, immer berührend, kurz: Wie gemacht fürs Geschichtenerzählen! Stundenlang könnte man ihm zuhören. Wir sind bei den Vietors daheim, Ehefrau Inge hat Kaffee gekocht, und die Hauptperson stellt sich erst mal vor: fast 82 Jahre (im Mai), aus Duisburg (schon ewig!) und von Beruf – Leseopa.

Diesen Titel trägt man nicht einfach so. Den muss man sich verdienen.

Und das macht Friedemann Vietor jetzt seit beinahe 20 Jahren, seit er in Rente gegangen ist, mit 63; im vorigen Leben war er Buchhändler, rund 40 Jahre in der alteingesessenen Braunschen Buchhandlung in Duisburg. Wer auf YouTube und TikTok unterwegs ist, ist ihm vielleicht schon mal begegnet: ein gut gekleideter Herr mit Bart und Krawatte im grünen Ohrensessel, das gut bestückte Bücherregal im Hintergrund, ein unsichtbares Lese-Exemplar auf dem Schoß.

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Der Leseopa Friedemann Vietor erzählt Märchen, Sagen, Lyrik und Prosa auf TikTok und YouTube

So erzählt er seine Geschichten. Das können Märchen sein, von den Brüdern Grimm und aus aller Welt. Erzählungen, Balladen oder Sagen. Kinderreime sind dabei, Bilderbücher, Lyrik und gehobene Prosa. Oder sogar eigene Werke. Wie groß sein Repertoire an Geschichten ist, kann Vietor längst nicht mehr beziffern. Tausende! Nur so viel: Rund 950 Lesungen sind bei YouTube erschienen, manche Videos haben 30.000 Aufrufe. Bei TikTok bringt er es inzwischen auf rund 51.000 Follower. Da wundert es nicht, dass die Enkeltochter in der Schule stolz erzählt, „dass mein Opa ein Influencer ist.“

Denn das ist er, der Friedemann Vietor. Und inzwischen auch ein Werbe-Star. Nach Jahren der Präsenz aus der guten Bücherstube hinaus in alle Welt ist zuletzt die DB Regio auf ihn aufmerksam geworden. Sie hat den Leseopa für ihr Marketing verpflichtet. Seither verdient er erstmals mit seiner Leidenschaft Geld. Bewundern kann man ihn auf Instagram, wo er seinen Ohrensessel mit einem Sitzplatz in einem Zugabteil eingetauscht hat. Jeden Monat liest er dort eine neue Geschichte vor: „Bücher sind wie Züge. Sie bringen euch überall hin“, lautet der passende Slogan. Sei’s drum.

Leseopa Friedemann Vietor: Alles begann mit einer schweren Erkrankung

Vietor muss schmunzeln, wenn er das erzählt. Aufregend findet er es, ein bisschen. Eine große Sache ist es nicht. Dazu ist er viel zu bescheiden: „Ich will Literatur mit meiner Stimme lebendig machen“, sagt er. „Ich schlüpfe in die Geschichte hinein und komme erst wieder heraus, wenn ich das Buch zuschlage.“

Duisburg - Leseopa Friedemann Vietor
Leseopa Friedemann Vietor in seiner Wohnung. Er und seine Frau besitzen rund 5000 Bücher. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Angefangen hat alles aber mit einer traurigen Geschichte: Vietor war einen Tag in Rente („Meiner Frau zuliebe bin ich vorzeitig in den Ruhestand gegangen“), da wurde er sehr krank. Ein Speiseröhrenriss, die Zungenwurzel wurde beschädigt, über ein halbes Jahr konnte der eloquente Mann nicht mehr sprechen. Damals formte er Buchstaben mit seinen Fingern, um sich zu verständigen. Aber Friedemann Vietor hat sich herausgekämpft, mit logopädischer Hilfe, Physiotherapie, Kraft, eisernem Willen – „alle hatten mich aufgegeben.“ Seither betrachtet er seine Stimme als ein „unvergleichliches Geschenk.“ Und das möchte er mit anderen teilen. Wobei ihm die Kinder immer noch das liebste Publikum sind. „Wegen der glänzenden Augen, wenn sie zuhören. Die Erwachsenen bedanken sich. Aber das ist nicht zu vergleichen.“

Leseopa Friedemann Vietor macht am liebsten den Kindern eine Freude

So diente er sich nach seiner Genesung auch zunächst einem Kindergarten an. 2007 war das. Viele Kinder bekommen zu Hause nicht mehr vorgelesen – denen wollte er als „Leseopa“ eine Freude machen. Gesagt, getan. Anderthalb Stunde pro Woche kam Vietor, jeden Freitag, und trug den Kleinen Geschichten vor. Besonders beliebt waren Bücher wie „Schokolade am Meer“ (von Antonia Michaelis) und „Das neue große Vorlesebuch“ von Nina Schiefelbein. Kinder winkten ihm auf der Straße zu („Das ist der Leseopa!“). Weitere Kindergärten kamen hinzu, dann fragte eine Senioreneinrichtung an. Dort ist Vietor immer noch regelmäßig zu Gast. Damals hieß das für ihn: Repertoire-Erweiterung, Gastspiele in Mülheim.

Vietor zeigt ein dickes Buch, „Der ewige Brunnen“, das Hausbuch deutscher Dichtung, Ludwig Reiners. Manchmal bittet er seine Zuhörerinnen und Zuhörer, mit einem Lesezeichen hineinzustechen. Dort, wo es landet, setzt er dann an. Und so hätte es eigentlich immer weitergehen können – wäre nicht die Pandemie gekommen. Corona trennte den Leseopa von seinen Kindern. Und sie waren darüber furchtbar traurig. Da kam die zündende Idee von seiner Schwiegertochter: Vietor begann, Lesungen mit dem Handy aufzuzeichnen. Hilfestellung bot seine Frau, die heute noch berichtet, dass sie mitunter so sehr lachen musste (etwa über „Mister Griesgram“ und sein Stinkstiefelhaus), dass die Filmchen total verwackelten.

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Inzwischen ist Vietor schon lange professionell mit Handy-Halterung im Internet unterwegs. Erst WhatsApp, dann YouTube, später TikTok. Ein Ende ist nicht in Sicht, dazu macht ihm sein Job als Leseopa viel zu viel Freude. Wobei er auch noch immer im privaten Rahmen liest. Ehefrau Inge erzählt von langen Autofahrten, sie am Steuer, er mit der Lektüre daneben.

Stundenlang kann sie ihm zuhören – und bisweilen sorgt seine lebendige Erzählweise für Irritationen. „Das brauchst du nicht zu lesen, den Film habe ich gesehen“, sagt die Inge dann. Dabei ist es nur eine Geschichte, die ihr Mann schon mal vorgetragen hat. Wer mit dem Leseopa verheiratet ist, braucht weder Kino noch Fernseher.