Essen. Der Gustav-Heinemann-Friedenspreis ging an Barbara Yelin für ihr Buch über Emmie Arbel. Heinemann-Enkelin Christina Rau applaudierte.
Es ist ein eindringliches Bild, wie Emmie Arbel in ihrem Sessel sitzt. Sie trägt eine gelbe Hose und ein grünes Shirt, in der rechten Hand hält sie eine Zigarette. Mit ernstem Blick schaut sie nach vorn, erst beim näheren Hinsehen nimmt man die Gestalten vor dem schwarzen Hintergrund wahr. Ein kleines Mädchen mit kurzen Haaren ist auch dabei, es ist Emmie Arbel als Kind, und was man auf dem Cover des Buches „Die Farbe der Erinnerung“ sieht, ist ein winziger Ausschnitt aus ihrem langen Leben, damals im Konzentrationslager Ravensbrück.
Für die fast 200 Seiten umfassende Graphic Novel „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ ist die Illustratorin Barbara Yelin mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnet worden. In der Alten Synagoge in Essen herrscht im Publikum eine bedächtige, bedrückende Stille, als sie die Illustrationen aus ihrem Werk vorstellt.
Großeltern und Eltern wurden ermordet
Denn: Was Emmie Arbel erlebt hat, ist nur schwer auszuhalten. Die alte Dame ist extra angereist, aus Tiv’on in der Nähe von Haifa. Sie hat ihre Kräfte gebündelt, um in Essen zu erleben, wie Barbara Yelin dafür geehrt wird, aus jahrelangen Reisen und Gesprächen intensive Bilder geschaffen zu haben.
Emmie Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren und 1942 mit ihrer jüdischen Familie von den Nazis deportiert. Sie kam ins Lager Westerbork und von dort ins Konzentrationslager Ravensbrück und nach Bergen-Belsen. Als der Krieg vorbei war, war sie acht Jahre alt. Ihre Großeltern wurden in Auschwitz ermordet, auch ihre Eltern überlebten den Holocaust nicht.
Eine Pflegefamilie in den Niederlanden adoptierte Emmie und ihre Brüder Menachem und Rudi, aber die Rettung stellte sich als neue Belastung heraus: Emmie wurde von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. 1949 wanderte die Familie nach Israel aus, wo Emmie als junge, starke Frau entschied, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
„Die Erinnerung, die ich an meine Kindheit im Holocaust habe, sind oft Bilder“, sagte Emmie Arbel in einem der ersten Gespräche mit Barbara Yelin. Beide lernten sich in der Gedenkstätte Ravensbrück kennen. Einerseits eine gute Voraussetzung für eine Graphic Novel, aber wie stellt man die schlimmen und schlimmsten Bilder dar?
Die schlimmsten Erinnerungen sind schwarz
Die Illustratorin wählte Schwarz und ein tiefdunkles Blau als Farbe, um die Erlebnisse im Konzentrationslager auf Papier zu bringen. Wie alle Frauen dieselbe Kleidung hatten, mit Tüchern auf dem Kopf. Wie sie stundenlang in der Kälte stehen mussten. Wie Emmies Mutter an Entkräftung starb, obwohl der Krieg da schon zu Ende war. Emmie Arbel selbst spricht im Buch von einem Gefühl der Entmenschlichung: „Das ist es, was ich am stärksten fühle, wenn ich über meine Erinnerungen rede. Ich war kein Mensch. Ich war eine Nummer.“
Aber die Graphic Novel birgt auch fröhliche Farben. Helle Gelb- und Grüntöne bestimmen die Seiten, etwa wenn Emmie Arbel mit ihren Töchtern in Tiv’on zusammen ist oder wenn sie mit ihrem Enkel spricht. Denn eins wird deutlich, wenn man ihr Leben betrachtet: Emmie Arbel will nicht als Überlebende, als Opfer gesehen werden. Sie will nicht auf ihre Gewalterfahrungen reduziert werden, sondern war Zeit ihres Lebens eine Frau mit einer hohen Resilienz.
„Was ich erlebt habe, hat mich mutig und stark gemacht. Ich finde es wichtig, der Welt diese Geschichte zu erzählen“, sagt sie in der Alten Synagoge in Essen. Immer wieder reiste sie nach Deutschland, um als Zeitzeugin zu sprechen, zunächst mit ihrem Bruder, dann allein. Was sie jungen Leuten sagen will, ist: „Akzeptiert Menschen, die anders sind, und verbreitet das Gute in der Welt, nicht das Schlechte!“
Die Zeichnerin Barbara Yelin, 40 Jahre jünger als Emmie Arbel, sagt: „Die Erinnerung eines Kindes ist nichts Festes, ist nicht chronologisch. Es ist eine Chance des Comics, dass ich auch die Leerstellen sichtbar machen kann und in Bildern mehr erzähle, als Worte es können. Dieses Buch basiert auf vielen Gesprächen, auf viel Zeit, vielen Pausen und einer starken Basis des Vertrauens.“ Diese Begegnungen machte die Illustratorin zu einem Teil ihrer Graphic Novel.
Die Erinnerung muss wachgehalten werden
Ina Brandes, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, sagte, diese Form der Erinnerung sei für die nachwachsende Generation sehr hilfreich, zumal man nicht mehr viel aus erster Hand erfahren könne. „Gerade junge Menschen fühlen sich von Graphic Novels angesprochen. Und angesichts von antisemitischen Übergriffen und Anfeindungen seit dem Terror-Überfall der Hamas brauchen wir dringend solche Erzählformen, um die Erinnerung wach zu halten.“
In Essen haben sich Schülerinnen und Schüler bereits mit Emmie Arbel beschäftigt. Am Mariengymnasium im Stadtteil Werden setzte sich ein Deutschkurs im zwölften Jahrgang mit der Graphic Novel auseinander. In einem Workshop ging es um die Themen Diversität, Vielfalt, Antirassismus und Antidiskriminierung.
Am Gymnasium Essen-Werden beschäftigte sich ein Projektkurs Geschichte mit dem Buch. Im Januar 2025 wird der gesamte zwölfte Jahrgang nach Auschwitz reisen. Zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers am 27. Januar ist eine Gedenkveranstaltung in Essen geplant. Außerdem schrieben Schülerinnen und Schüler persönliche Briefe an Emmie Arbel. Laila (17) sagt: „Ich fand das Buch und ihr Leben sehr beeindruckend. Die unterschiedlichen Farben haben mir besonders gefallen.“
DER GUSTAV-HEINEMANN-FRIEDENSPREIS
In Erinnerung an den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann verleiht die Landesregierung Nordrhein-Westfalen seit 1983 jährlich den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Mit diesem Preis werden Bücher ausgezeichnet, die Kinder und Jugendliche ermutigen, sich für Menschenrechte, für gewaltfreie Formen der Konfliktlösung, für die Integration von Minderheiten und für ein friedliches Zusammenleben einzusetzen. Zur Preisverleihung kam auch Christina Rau nach Essen, die Witwe des verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau. Sie ist eine Enkelin von Gustav Heinemann.
Die Graphic Novel entstand im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts („Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide and Human Rights Education“), das einen Austausch zwischen Überlebenden von Genoziden und Künstlerinnen und Künstlern anstoßen und wissenschaftlich aufbereiten will.
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