Essen. Antisemitische Hetze und Israelfeindlichkeit greifen um sich. Essens Alte Synagoge will etwas dagegen tun. Nicht nur zum Gedenktag am 9. November

An den Anblick der Baugerüste, die die Alte Synagoge seit Monaten wie eine zweite Schutzhaut umstellen, haben sich viele mittlerweile schon so gewöhnt wie an den Streifenwagen, der für Sicherheit sorgt. Gleichwohl muss sich das Haus der jüdischen Kultur in Essen derzeit nicht nur mit baulichen Problematiken arrangieren. Auch die fortwährende Eskalation des Nahostkriegs nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor über einem Jahr wirft Schatten auf das diesjährige Gedenken an die Novemberpogrome des NS-Regimes vor 86 Jahren. Weil der 9. November in diesem Jahr auf den jüdischen Ruhetag Schabbat fällt, findet die städtische Gedenkfeier in Essen am Sonntag, 10. November, 19 Uhr, statt. Zu den Rednern gehört neben Oberbürgermeister Thomas Kufen auch der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer. Über die Bedeutung des Gedenktages und den Umgang mit einem weiter um sich greifenden Antisemitismus sprach Martina Schürmann mit Diana Matut, Leiterin der Alten Synagoge in Essen.

Wenn man in den vergangenen Jahren den 9. November begangen hat, haftete dem Gedenken bisweilen auch etwas Ritualisiertes an. Mittlerweile sind Judenhass und Antisemitismus aber keine Begriffe mehr von vorvorgestern. Braucht der 9. November eine neue Form, über das Gedenken hinaus?

Wir können über die Formen streiten, aber wir sollten grundsätzlich das Gedenken nicht infrage stellen, denn es hat eine wichtige Funktion. Es macht uns bewusst, was Menschen aus Essen durch Menschen aus Essen erlitten haben. Die Formen des Gedenkens und Erinnerns müssen sich sicherlich ändern und ändern sich auch. Wichtig ist aber: Die Synagoge und ihre Geschichte ist auch ein Teil des Gedächtnisses dieser Stadt, mit der sich Menschen verbinden können. Gedenken und Erinnern muss durch viele Herzen und Köpfe gehen.

Vom Verkehr umtost, von Baugerüsten umstellt. Die Alte Synagoge wirkt in diesen Tagen nicht sonderlich einladend.
Vom Verkehr umtost, von Baugerüsten umstellt. Die Alte Synagoge wirkt in diesen Tagen nicht sonderlich einladend. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Im vergangenen Jahr stand der 9. November vor allem im Zeichen der Solidarität mit Israel. Tausende versammelten sich, um der Opfer des Hamas-Terrorangriffs vom 7. Oktober zu gedenken. Mittlerweile hat die Kritik an der Politik Israels zugenommen, aber auch die Sorge, mit seiner Kritik als israelfeindlich zu gelten. Was beobachten Sie?

Die härtesten Kritiker des Staates Israel sind sicherlich die israelischen Staatsbürger, die Jüdinnen und Juden weltweit. Aber wir müssen derzeit beobachten, wie moderne und auch klassische Antisemitismen in die Kritik am Staat Israel einfließen, von links wie von rechts. Hier reicht das Spektrum von Israel als imperialistischer, rassistischer Kolonialmacht bis hin zu Verschwörungstheorien und Weltherrschaftsideologien. Wer Kritik am Staat Israel übt, sollte die Geschichte kennen und Differenzierungen vornehmen können.

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Die Bundesregierung hat unter dem Titel „Nie wieder ist jetzt“ eine Resolution zum Schutz des jüdischen Lebens in Deutschland gefasst. Kann so ein politisches Instrument hilfreich sein?

Um die Resolution ist ja nicht grundlos hart gerungen worden. Das Problem dabei ist, dass es immer wieder auf die große Frage hinausläuft: Wie definieren wir Antisemitismus? Das ist eine große Herausforderung unserer Zeit. Zum einen, weil der Begriff in der Vergangenheit intensiv ge- und teilweise auch missbraucht wurde. Sodass er sich auf der einen Seite fast entleert hat. Auf der anderen Seite ist es ein Begriff, den wir dringend brauchen, weil er uns hilft, bestimmte Gedanken, Prozesse und Verhaltensweisen zu fassen. Wir werden nicht darum herumkommen, dass der Begriff erst einmal von staatlicher Seite definiert wird. Wir brauchen etwas, woran wir uns orientieren können. Der jetzige Beschluss ist eine Momentaufnahme, der Diskurs darum muss und wird weitergeführt werden

Die Alte Synagoge und ihre Ausstellungs-Themen

Die „Alte Synagoge“ hat im vergangenen Jahr mehr als 25.400 Besucher gezählt, rund 8000 davon waren Kinder und Jugendliche, die das Bildungsangebot der Gedenkstätte genutzt haben.

Die Dauerausstellung in der Alten Synagoge beschäftigen sich mit mehreren Themen. Unter anderem geht es um die Geschichte der jüdischen Gemeinde Essen und den jüdischen „Way of Life“.

Am 17. November 2024 kommt eine weitere Ausstellung unter dem Titel „Freiheitskoffer“ dazu. Sie thematisiert die jüdische Migration ins Ruhrgebiet ab 1990.

Am 30. März 2025 wird die große Jahresausstellung unter dem Titel „Green Jews. Umweltschutz und Judentum“ eröffnet.Das Rahmenprogramm bietet Vorträge und Workshops, auch der Besuch von Bewohnern eines israelischen Öko-Kibbuz ist geplant.

Im Herbst 2025 wird die Alte Synagoge offiziell zum Frauenort in NRW ernannt. Im Zentrum der Aktivitäten steht dann die Essenerin Dore Jacobs. Unter dem Titel „Essen in Bewegung. Dore Jakobs und die Kulturen der Körper“ beschäftigt sich eine Ausstellung mit der Essener Sozialistin, Feministin und Bewegungslehrerin, an die heute noch das Dore-Jakobs-Berufskolleg erinnert.



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Eine Umfrage, die nach dem Terrorangriff der Hamas entstand, hat gezeigt, dass bis zu einem Viertel der Befragten in NRW antisemitische Einstellungen haben. Etliche davon wollen eine jüdische Einrichtung nicht mehr besuchen. Wie sehr besorgt Sie das?

Die erwähnte Studie hat auch gezeigt, dass bestimmte Dinge, die wir erwarten oder vermuten, nicht der Realität entsprechen. Demnach ist der Antisemitismus-Wert unter migrantischen wie nicht-migrantischen Communitys prozentual genau gleich. Ob jemand antisemitisch eingestellt ist, hat laut Studie eher mit politischen Einstellungen oder religiöser Prägung zu tun. Wir müssen sehr wachsam sein, nicht einer rechten Strategie zu folgen, die Antisemitismus nicht mehr als „innerdeutsches“, sondern als ein rein migrantisches Phänomen darstellen will.

Vor allem bei Jugendlichen sei das israelfeindliche Weltbild besonders ausgeprägt, während das Wissen über Israel und den Nahostkonflikt dramatische Lücken aufweise, sagt die Studie. Gleichwohl canceln mehr Essener Schulen ihren Besuch in der Alten Synagoge. Wie das?

Nach dem 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Krieges haben wir gemerkt, dass Schulklassen den Besuch aufgekündigt haben. Das würden wir aber nicht auf eine migrantische Struktur zurückführen. Da geht es um viele Dinge, beispielsweise wie stark Lehrerinnen und Lehrer insgesamt belastet sind. Ich halte es auch nicht für zielführend, darauf gekränkt zu reagieren, weil wir die Fronten so nur weiter verhärten. Wir haben absolut die Chance, zielgruppenspezifisch auf Menschen zuzugehen.

Was ist Ihr Konzept?

Meine Idee ist es, in die aufsuchende Arbeit zu gehen. Das Projekt, das wir gerade aufbauen, nennt sich „Alte Synagoge mobil“. Damit wollen wir vor allem in Schulen, in offene Einrichtungen und auf Plätze gehen und die Menschen vor Ort ansprechen. Wir stellen dazu unser Equipment, unsere Materialien und unser judaistisches Know-How zur Verfügung. Das ist ein wichtiger Perspektivenwechsel.

Haben Sie schon Erfahrungen mit dieser mobilen Arbeit gesammelt?

In Thüringen und Sachsen-Anhalt ist das Projekt bereits drei Jahre gelaufen, bis 2024. Der Mitarbeiter, der es dort betreut hat, ist jetzt in Essen angestellt. Anfang nächsten Jahres wollen wir damit starten und dann sukzessive ausbauen, sofern eine ausreichende Finanzierung gesichert ist. Es ist wichtig, dass Menschen dem jüdischen Thema begegnen können, ohne dafür die Hürde eines Museums überwinden zu müssen. Kinder und Jugendlichen müssen auch erst einmal frei reden dürfen, das müssen wir zulassen. Es nützt ja nicht, bestimmte Dinge, die sie von zu Hause mitbringen oder auf TikTok aufgeschnappt haben, zu unterbinden. Nur so können wir reagieren und anfangen zu arbeiten.

Sind Sie nicht besorgt, dass die Mitarbeitenden Anfeindungen ausgesetzt sind?

Das ist nicht von der Hand zu weisen. Wichtig ist: Man kann solche Arbeit nicht allein machen. Man braucht immer zwei Menschen, gerne auch drei. Nichtsdestotrotz kann Furcht für den Moment nicht der beherrschende Diskurs sein. Ich würde da erst die Segel streichen, wenn wir merken, dass es nicht mehr tragbar ist. Aber das ist uns bislang nie passiert.

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