Essen. Das Projekt „Never Forget“ von Schülern aus NRW und den USA rührte manche zu Tränen. Eine Jüdin reiste zum Abschluss extra nach Essen.

An diesem Abend kommen sie alle zusammen: Eine Ministerin, die als Jugendliche von einem Besuch im früheren Konzentrationslager Theresienstadt geprägt wurde. Zwei Jugendgruppen, die neugierig und mutig genug waren, um einmal Geschichtsunterricht auf eine ganz andere Art zu erleben. Ein Verein, in dem viele engagierte Menschen nachfolgende Generationen ermutigen wollen, an die Geschichten von Holocaust-Überlebenden zu erinnern. Und schließlich vier hochbetagte jüdische Frauen und Männer, denen es als jungen Menschen gelang, die Zeit des Nationalsozialismus zu überleben: Eva Weyl, Lisa Baer, Norbert Strauss und Leon Weintraub, drei von ihnen am Bildschirm.

Die Enkelin eines Kaufhausbesitzers aus Kleve

Aber Eva Weyl sitzt in der ersten Reihe, sie hat sich extra mit dem Auto aus Amsterdam auf den Weg gemacht. 89 Jahre ist sie alt, geboren in Arnheim, Enkelin eines Kaufhausbesitzers aus Kleve. Unermüdlich setzt sie sich für die Erinnerungsarbeit ein, spricht persönlich oder digital vor Schulklassen vor allem in NRW von dem, was ihr zwischen 1935 und 1945 passiert ist. Rund 120.000 Kinder und Jugendliche hat sie bislang damit erreicht, mit dieser Zahl erntet sie spontanen Applaus in der Alten Synagoge in Essen.

Giorgia, Lea und Ayomi (von links) von der Elsa-Brändström-Realschule in Essen haben am Projekt „Never Forget“ von Zweitzeugen e.V. teilgenommen und Lisa Baer in den USA interviewt.
Giorgia, Lea und Ayomi (von links) von der Elsa-Brändström-Realschule in Essen haben am Projekt „Never Forget“ von Zweitzeugen e.V. teilgenommen und Lisa Baer in den USA interviewt. © NRZ | Katrin Martens

Auch Giorgia, Lea und Ayomi sind beeindruckt. Die Schülerinnen der Elsa-Brändström-Realschule in Essen haben mit anderen am Projekt „Never Forget“ (Niemals vergessen) des Vereins Zweitzeugen in Zusammenarbeit mit dem Museum of Jewish Heritage in New York teilgenommen. Lisa Baer heißt die jüdische Frau aus New York, die die Essener Jugendlichen in einem Videogespräch kennenlernen durften. Die Geschichte der 98-Jährigen ist bewegend, die Jugendlichen sagen, sie seien von dem Gespräch „begeistert und berührt“ gewesen.

Flucht mit dem Schiff in die USA

Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs Lisa Baer mit zwei älteren Schwestern in Frankfurt auf und erlitt in ihrer Kindheit viele Diskriminierungen. In der Pogromnacht 1938 stellte sich ihre Mutter den plündernden Nazis entgegen. Ein Ausreisevisum für die USA zu erhalten, dauerte lang, doch schließlich konnte die Familie 1939 mit dem Schiff aus Lissabon nach Amerika fliehen. Lisa Baer arbeitete später als Damenschneiderin und Lehrerin für Kunsthandwerk.

Die Lehrer Daniel Kauffeldt (Mitte) und Nina Walter betreuten das Projekt an der Elsa-Brändström-Realschule in Essen.
Die Lehrer Daniel Kauffeldt (Mitte) und Nina Walter betreuten das Projekt an der Elsa-Brändström-Realschule in Essen. © MKW NRW | Meike Schrömbgens

Heute sagt sie: „Ich bin eine der Letzten, die sich daran erinnert, was passiert ist. So viele Menschen wie möglich sollen erfahren, was wir durchgemacht haben. Der Holocaust geschah nicht nur in den Konzentrationslagern. Auch wenn man nicht in einem Lager lebte, war das Leben schwierig. Ich möchte sicherstellen, dass gerade die jungen Menschen erfahren, dass dies alles passiert ist. Ich bin der Beweis dafür, dass es passiert ist.“

Giorgia (14) erinnert sich noch gut an das Gespräch mit Lisa Baer: „Das war sehr schön und sehr traurig. Man lernt daraus. Jeder Mensch sollte gleichbehandelt werden, immer, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“ Mit dieser Erkenntnis blieben sie und die anderen Projektteilnehmer aber nicht auf der Stelle stehen. Ihr Geschichtslehrer Daniel Kauffeldt findet: „Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es weitergeht. Die Jugendlichen wollen die Geschichte weitertragen, sie tragen sie im Herzen und wollen Zweitzeugen sein.“

Ein Video über das Schicksal der Überlebenden

Und so setzte sich die Gruppe drei Tage stundenlang zusammen und entwickelte aus Lisa Baers Leben den Plan für ein Stop-Motion-Video. Dabei werden nacheinander sehr viele Fotos von Objekten gemacht, die immer wieder leicht bewegt werden. Reiht man diese Fotos aneinander, entsteht die Illusion einer Bewegung. Giorgia berichtet: „Wir haben alle Sachen, die im Video zu sehen sind, selbst hergestellt.“

Lisa wird etwa als Pappfigur dargestellt, der in schlimmen Situationen blaue Papiertränen über die Wangen rollen. Ayomi urteilt: „Wir konnten unserer Kreativität freien Lauf lassen, das hat mir gut gefallen.“ Wichtig war allen, dass sie mit dem Video, das rund vier Minuten lang ist, junge Leute erreichen, die in den sozialen Medien aktiv sind.

An dem Projekt fand Ayomi auch gut, dass es einen Austausch mit amerikanischen Jugendlichen gab. Denn insgesamt nahmen fünf Schulen am Projekt „Never Forget“ teil, drei aus den USA und zwei aus NRW. Eva Weyl saß beispielsweise in einem Videogespräch mit Schülerinnen und Schülern aus dem US-Bundesstaat Indiana. „Die amerikanischen Schüler lernen aus einer ganz anderen Perspektive etwas über den Zweiten Weltkrieg“, sagt Ayomi. Sie fand es spannend, sich mit ihnen zu unterhalten.

Zum Abschluss des Projekts „Never Forget“ trafen sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Alten Synagoge in Essen.
Zum Abschluss des Projekts „Never Forget“ trafen sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Alten Synagoge in Essen. © MKW NRW | Meike Schrömbgens

Den Anstoß für das Projekt hatte NRW-Kulturministerin Ina Brandes (CDU) gegeben. Sie war im Frühjahr 2023 auf einer New-York-Reise im Museum of Jewish Heritage. „Das Team hat uns erzählt, was für ein großes Netzwerk von Holocaust-Überlebenden sie haben und welche intensiven politischen Bildungsprojekte sie mit ihnen machen.“ Ina Brandes hatte die Idee, sich mit dem Netzwerk und dem Museum zusammenzutun und ein transatlantisches Projekt auf die Beine zu stellen. Der Verein Zweitzeugen nahm diese Idee bereitwillig auf. Er setzt sich dafür ein, aus der Geschichte zu lernen und sich gegen Antisemitismus und jede Form von Menschenfeindlichkeit zu stellen. Erinnern und aktiv sein sei gerade in diesen Zeiten besonders wichtig.

Antisemitismus hat in NRW zugenommen

Die Ergebnisse der neuen Antisemitismus-Studie für NRW, die am Dienstag vorgestellt wurde, seien „sehr besorgniserregend“, findet Ina Brandes. Über 40 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen der Holocaust nichts bedeutet und dass sie darüber auch nicht mehr reden wollen. „Ein verheerendes Ergebnis“, so die Ministerin. „Unsere Verpflichtung als Landesregierung ist, dafür zu sorgen, dass sich alle Menschen bei uns sicher fühlen können, insbesondere auch unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.“

Ministerin Ina Brandes (links, hier im Gespräch mit Diana Matut, Leiterin der Alten Synagoge) wurde als Jugendliche von einem Besuch in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Theresienstadt geprägt.
Ministerin Ina Brandes (links, hier im Gespräch mit Diana Matut, Leiterin der Alten Synagoge) wurde als Jugendliche von einem Besuch in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Theresienstadt geprägt. © MKW NRW | Meike Schrömbgens

Sie selbst war als Schülerin auf einer Klassenfahrt in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Theresienstadt. „Wir sind dort von einer Dame geführt worden, die selbst dort inhaftiert gewesen war und davon erzählt hat. Ich werde das Gesicht dieser Frau nie vergessen und ebenso wenig die Geschichten, die sie uns erzählt hat“, so die 46-Jährige. „Ich habe später Geschichte studiert, weil ich verstehen wollte, wie so etwas passieren konnte und einen Beitrag dazu leisten wollte, dass sich so etwas nie wiederholen kann.“

„Zweitzeugen“ wollen die Erinnerung wachhalten

Diana Matut, die Leiterin der Alten Synagoge, zeigte sich in dem geschichtsträchtigen Gebäude beeindruckt von den Statements und kreativen Ideen der Schülerinnen und Schüler: „Es ist für mich ganz wunderbar, in so viele Gesichter von Menschen zu sehen, die den Anspruch haben, sich zu engagieren für die Erinnerung, aber diese Erinnerung auch in etwas zu verwandeln, das in die Zukunft weist.“ Und Eva Weyl, die Unermüdliche, sagt zum Abschluss: „Seid nicht hässlich! Seid nicht intolerant! Lasst euer Herz sprechen! Jeder Mensch hat ein Recht, in Freiheit zu leben.“

Auf der Internetseite www.werde-zweitzeuge.de können die kreativen Beiträge der Jugendlichen über das Leben der vier Holocaust-Überlebenden angesehen werden. Mehr Infos zum Verein Zweitzeugen e.V. gibt es auf der Internetseite www.zweitzeugen.de.