Essen. 2022 gab es in der Popmusik eine Reihe hoffnungsvoll stimmender Entwicklungen. Wir haben die wichtigsten Ereignisse des Jahres zusammengetragen.

Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Herausforderungen und Sorgen machten auch vor den Popschaffenden in diesem Jahr nicht Halt, es gibt allerdings eine ganze Reihe hoffnungsvoll stimmender Entwicklungen.

Bisschen das falsche Fest vielleicht gerade für eine Wiederauferstehung, aber so ganz persönlich war die Rückkehr des Peter, einst Pete, Doherty die schönste kleine Popgeschichte des Jahres. Der Engländer, vor zwanzig Jahre schon mit seiner nun auch wieder agilen Band The Libertines eine Brit-Pop-Lichtgestalt, hielt den Kopf im Sumpf aus harten Drogen lange Zeit nur ganz knapp oben, beklaute selbst engste Freunde und war einem Junkie-Schicksal ähnlich dem von Amy Winehouse weitaus näher als einem respektablen Leben.

Die Wiederauferstehung des Pete Doherty

Doch dann verliebte er sich in und ehelichte die 43-Jährige Musikerin Katia de Vidas, zog mit ihr an ein stilles Örtchen an der Küste der Bretagne, wo die größte Versuchung aus einem Laib extrabuttrigem Landkäse besteht, und nahm mit dem französischen Kollegen Frédéric Lo auch noch ein bezauberndes Indie-Pop-Chanson-Album „The Fantasy Life Of Poetry And Crime“ auf, das man gar nicht oft genug hören kann. Im Dezember nun gastierte die kleine Band in Strasbourg, wo der mittlerweile wonneproppere Doherty gegen Ende des Konzerts die frohe Kunde tat, dass de Vidas und er Nachwuchs erwarten. Am Ende eines Jahres, in dem es erneut in Bezug auf Angst und Schrecken keine Mangellage gab, ist so eine herzensliebe Lebenswendung umso bezirzender.

Chart-Aufsteigerin Nina Chuba sorgte mit ihrem Hit „Wildberry Lillet“ für gute Laune.
Chart-Aufsteigerin Nina Chuba sorgte mit ihrem Hit „Wildberry Lillet“ für gute Laune. © dpa | Rolf Vennenbernd

Die großen Schlagzeilen – und auch die großen Erfolge - des Pop- und Rockjahres gehörten indes vor allem den Etablierten und den Eh-schon-Reichen. Hört sich erstmal banal an, hat aber für viele Nicht-Große seit Monaten die Konsequenz, dass sie sehen müssen, wo sie bleiben. Vor allem im Livegeschäft ist nach Corona die Kluft zwischen Triumphierenden und Vegetierenden noch einmal deutlich breiter geworden. Während sich etwa Ed Sheeran, Coldplay, Die Toten Hosen, Rammstein oder The Cure über die Einnahmen aus vollen Hallen und Stadien freuen, ist das zugleich ver- wie entwöhnte Publikum beim Kartenneukauf für alles, was keinen Event-Charakter verspricht, sehr widerborstig. Selbst eine renommierte Band wie Tocotronic (die mit dem Anfang des Jahres veröffentlichten Album „Nie wieder Krieg“ plötzlich weit zeitgeistiger wirkte als geplant) musste eine Tournee für den Herbst absagen.

Taylor Swift ist der Superstar des Jahres 2022

Derartige Probleme kennt Taylor Swift höchstens vom Hörensagen. Als die Sängerin Mitte Oktober ihr – tatsächlich sehr gelungenes – Album „Midnights“ veröffentlichte, dauerte es nur eine Woche, bis es weltweit das meistverkaufte Langspielwerk des Jahres wurde, und kaum war der Vorverkauf für die 2023-US-Stadiontour namens „Eras“ gestartet, da brach das Ticketportal binnen weniger Minuten so spektakulär zusammen, als sei es von jemandem in Berlin programmiert worden. So gut wie alle 2022-Rekorde, die irgendwas mit Zahlen zu tun haben, sicherte sich Swift quasi im Handumdrehen.

Besonders kurios: Die erste zehn Plätze der US-amerikanischen Singlecharts okkupierten Ende Oktober Songs aus „Midnights“. Auch die gute alte Beyoncé dürfte sehr zufrieden mit Mann und Kindern unterm Baum sitzen. Mit „Renaissance“, einer hochklassigen, wenngleich etwas übersteuert hibbeligen Hommage an die queere, schwarze Disco-Musik von früher bis übermorgen pustete und jauchzte sie im Sommer die letzten Pandemiepartikel aus den trägen Leibern.

Doppelschlag der Red Hot Chili Peppers

Überhaupt lief Eskapismus prächtig. Nicht wenige Menschen können sich auch beim Musikhören nichts Aufregenderes vorstellen, als weiter vor Despoten-Invasionen oder anstehenden Weltuntergängen zu frösteln, und daher waren feierfröhliche Lieder wie About Damn Time“ von Lizzo, Nina Chubas „Wildberry Lillet“, die heitere Schlussmachhymne „abcdefu“ von der US-Teenagerin Gayle, das spritzige „Angelica“ von der Frauenrockduoentdeckung Wet Leg, so ziemlich alles vom neuen Bilderbuch-Album „Gelb ist das Feld“ oder auch lässige „Black Summer“ von denRed Hot Chili Peppers sehr beliebt. Letztere fielen ferner damit auf, das sie erst sechs Jahre keins und dann innerhalb von sechs Monaten zwei Auch-noch-Doppel-Alben („Unlimited Love“ und „Return Of The Dream Canteen“) raushauten, die ein gewisses Übersättigungspotential in sich bargen – viel hilft nicht immer viel.

Ein Song über eine Puffmama namens „Layla“

Auf der dumpfen Seite des Einfach-mal-Spaß-haben-Musiktrends lauerte unterdessen eine gewisse Puffmama namens „Layla“, die von den zwei Strategen DJ Robin und Schürze so passgenau ins Aufregungs-Sommerloch gehievt wurde, das sich bis zum Jahresende kein Song vorbeiquetschen konnte: „Layla“ ist in Deutschland die erfolgreichste Single des Jahres (erfolgreichstes Album hierzulande wurde übrigens das mittelmäßige „Zeit“ von Rammstein). Dabei sollte doch der Grundsatz gelten: Wenn schon schlüpfriger Schlagerpop, dann doch lieber von Roland Kaiser. Auf „Du, deine Freundin und ich“, besingt der 70-jährige ganz ungeniert eine kleine Threesome-Phantasie, das dazugehörige Album „Perspektiven“ beweist derweil Standfestigkeit in den Charts.

Gute Nachricht. Pete Doherty ist wieder auf dem Damm. Er hat geheiratet und lebt jetzt in der Bretagne.
Gute Nachricht. Pete Doherty ist wieder auf dem Damm. Er hat geheiratet und lebt jetzt in der Bretagne. © Getty Images | Matthew Baker

Noch eine Ecke anspruchsvoller drückt Max Raabe seine frivolen Lustbarkeiten aus, mit seinem Album „Wer hat hier schlechte Laune“ reüssiert der gebürtige Westfale ebenfalls seit Monaten prächtig. Und während sie die Rente mit 64 genießt, sahnte Kate Bush mit dem 37 Jahre alten „Running Up That Hill“ gigantisch ab – dank der Netflix-Serie „Stranger Things“, in der die tolle Nummer prominent zum Einsatz kommt.

Es ging bei den Stars auch um psychische Unebenheiten

Noch mehr guten Nachrichten: „Mental Health“ ist weiter wichtig, mit Selena Gomez, Shawn Mendes und Justin Bieber gingen gleich drei Teen-Idole sehr offen mit ihren psychischen Unebenheiten um. Darüber hinaus kommt die Sache mit der sogenannten Diversität endlich bei den Konsumierenden an. Sam Smith (non-binär) und Kim Petras (trans) etwa waren neulich zusammen auf Platz Eins mit „Unholy“, noch zwei, drei Jahre, und die geschlechtlichen Identitäten sind erst gar keine Erwähnung mehr wert.

Und auch der erfolgreichste Song des Jahres (10 Wochen Nr. 1 in UK, 15 Wochen in USA) geht an einen echten Fortschrittsgeist. Harry Styles, an dessen „As It Was“ vom „Harry’s House“-Album man sich wirklich kaum satthören kann, trägt gelegentlich Kleider, soll, was man so hört, sehr nett sein und findet zwei Mal täglich Zeit zur Meditation. Styles gilt gemeinhin als einer der am wenigsten toxischen Männer im Pop und ist damit das exakte Gegenteil von: Ye. Oh je, früher hieß er Kanye West, er war seit jeher verhaltensauffällig, aber lange war alles von seiner Genialität gedeckt. Nun nicht mehr. Hartnäckig verzapfte er antisemitischen und sonstigen Unsinn, bis ihn endlich alle – von adidas über Balenciaga bis zu seiner Plattenfirma – vor die Tür setzten.

Bad Bunny ist die auf Spotify meistgestreamte Künstlerperson des Jahres

Eine eigene Modekollektion hat Bad Bunny bislang nicht, es würde sich aber bestimmt rechnen. Der 28-jährige Latin-Pop-Musiker aus Puerto Rico, bürgerlich Benito Antonio Martínez Ocasio und bei uns lange unterhalb der wirklichen Wahrnehmungsschwelle, hat sich auch schon mit Rock und Perlohrringen präsentiert, definiert sich als sexuell fluide und spricht offen über seine Depressionen. Vor allem aber ist Bad Bunny, dessen aktuelles Album „Un Verano Sin Ti“ heißt und Trap mit Reggaeton und anderen karibischen Rhythmen mischt, die auf Spotify meistgestreamte Künstlerperson des Jahres, vor Taylor Swift, vor Ed Sheeran, vor allen.

Das – rein subjektiv – beste Album des Jahres kommt unterdessen von Rosalía Vila Tobella, kurz Rosalía, aus Barcelona, heißt „Motomami“ und bringt mit spektakulärem, teils experimentellem, teils sehr melodischem Pop-Flamenco garantiert Schwung in jede noch so triste Silvesterparty.

Peter Fox sieht die Zukunft pink

Und in Zukunft? Der Tod wird nicht gnädiger, er holte sich unter anderem Christine McVie, Meat Loaf, Taylor Hawkins von den Foo Fighters, Aaron Carter, Olivia Newton-John und Andy Fletcher von Depeche Mode. Vorgesorgt für die Zeit nach ihrem Ablegen haben bekanntlich Abba, deren Avatar-Show „Voyage“ seit Mai in London läuft. Barry Gibb von den Bee Gees und Cher (beide 76) haben sich die Sache schon mal näher angeguckt, während Peter Fox mit seinen zarten 51 nicht nur in seiner Nummer-Eins-Single verlauten lässt, seinen Avatar gekillt zu haben, sondern auch gleich mal die Devise für 2023 ausgibt: „Alle malen schwarz, ich seh‘ die Zukunft pink/ Wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind.“