Essen. Das Ruhr Museum auf Zollverein bat die Menschen der Region, ihre Erinnerungen zu teilen – und zeichnet nun ein Bild der „Kindheit im Ruhrgebiet“.
Wenn es um die Kindheit im Ruhrgebiet geht, dann sind die Bilder in der öffentlichen Wahrnehmung meist nostalgiesatt schwarz-weiß gezeichnet. Sie zeigen kickende Knirpse vor Zechentürmen, Industriebrachen als Abenteuerspielplätze, wo Blagen mit kurzen Hosen und Dreck um den Mund die graue Gegenwart mit einem frechen Lächeln erhellen. So erschien lange die Kindheit im Ruhrgebiet – arm, aber wild und glücklich.
Weil das Bild aber irgendwann doch differenziert und weitergeführt werden musste, hat das Essener Ruhr Museum nun die Menschen der Region um Mithilfe gebeten. Nicht nur ihre Erinnerungen, sondern auch etliche Exponate ihrer Jugend sind Teil einer Ausstellung, die in Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund in Essen „ein persönliches und gleichzeitig zu verallgemeinerndes Bild einer historischen Kindheit in einer besonderen Region“ zeichnen will, sagt Museumsdirektor Theodor Grütter. Ergänzt wird die Schau mit rund 100 Bildern aus dem Fotoarchiv des Ruhr Museums.
Holzskier, Fußballschuhe und eine Armprothese
So verwandelt sich die Galerieebene des Ruhr Museums auf der Essener Zeche Zollverein in ein Spieleparadies – inklusive Carrera-Bahn und Lego-Ecke.
Betont unsentimental hat man ansonsten zusammengetragen, was den Menschen ausstellungswürdig erschien: die alten Holzskier, mit denen der Bottroper Bergmannssohn Rainer Rothenberg auf der Halde Haniel herumrutschte, die Fußballschuhe, in denen der Essener Thomas Körzel sein erstes Spiel als Linksaußen beim TuS Helene vergeigte. Aber auch die Armprothese des kriegsversehrten Vaters, die der Mülheimerin Christa Post-Baron den Umgang mit Behinderungen selbstverständlich machte und sie als Erwachsene Sonderpädagogin werden ließ.
66 Alltags-Objekte wurden aus hunderten Bewerbungen ausgewählt, weil sie den Ausstellungsmachern „entweder ganz typisch für die Zeit oder sehr außergewöhnlich“ erschienen, sagt Theodor Grütter. Jedes Ausstellungsstück hat eine eigene Vitrine, vom Rollerfahrrad aus den 50ern bis zum Zauberwürfel der 80er, vom Puppenhaus bis zum braunen Haarzopf, den Winnetou-Fan Gesine Schulz in den 60ern wie eine indianische Siegestrophäe an die Wand hängt. Jedes Stück dieser Zeitreise ist chronologisch angeordnet: Sie beginnt Ende der 1940er-Jahre mit dem Steckspiel aus bunten Bolzenwaffen-Fähnchen und endet mit dem Sammelalbum „Fußball 1989“. Denn die Museumsrecherche hat auch gezeigt: Um die eigene Kindheit unter historischen Gesichtspunkten zu betrachten, braucht es einen gewissen zeitlichen Abstand. So seien die Erinnerungsstücke aus den 60ern und 70ern zuhauf eingereicht worden, während die Auswahl in den 1980ern doch deutlich geringer geworden sei, berichtet Kuratorin Michaela Krause-Patuto.
Aufruf fand bei Migranten keine Resonanz
Bei allem Anspruch, Zeit- und Themen-übergreifend zu agieren, hat die Ausstellung freilich auch etwas ausschnitthaftes. „Wir können nicht die gesamte Geschichte der Kindheit im Ruhrgebiet erzählen“, sagt Krause-Patuto und bedauert beispielsweise, dass der Aufruf bei Migranten keine Resonanz fand.
Fotografen wie Willy van Heekern, Henning Christoph oder Brigitte Kraemer fotografierten neben Kirmesbesuch und dem Sackhüpfen im Grugapark dabei schon früh den bangen Blick zweier Jungen in Beschneidungsuniform oder die türkischen Mädchen in frecher Monroe-Pose überm Supermarkt-Lüftungsschacht.
Der Strukturwandel macht vor der Kindheit nicht Halt, Wohlstand wird zum Gleichmacher. Einen selbst gemachten Schulranzen aus Fördergurt-Gummi hatte nicht jeder. „Drei Fragezeichen“-Kassetten hören am Ende fast alle.
Bis 25.5.2021, Mo-So 10 -18 Uhr. Infos: www.ruhrmuseum.de. Der Katalog (Klartext-Verlag) kostet 24,95 €