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Arnon Grünbergs Roman „Mitgenommen“ spielt in einem südamerikanischen Land – und spiegelt tiefe Wahrheiten. Es ist ein Buch über Frauen, vor allem über die eine, die der deutsche Titel meint; die immer mitgenommen wird.

Man merkt es nicht gleich, aber dies ist ein Buch über Frauen. Vor allem über die eine, die der deutsche Titel meint; die immer mitgenommen wird an Orte, an denen sie nichts mehr zu verlieren hat. Aber auch über andere – die un­glückliche, untreue, törichte Ehefrau und ihre Haushälterin, die sich un­ter der Fremdbestimmung selbst abhanden gekommen ist. Und die irrwitzig Verstoßene im Dorf jenseits allen Empfindens, in dem die Menschen lehmfarben ge­worden sind wie die Äcker: die alte Mutter des Bauern, die die Kälte nicht mehr spürt und des­halb Tag und Nacht draußen hockt, ne­ben dem Acker, der allen als Abort dient.

Arnon Grünberg erzählt äußerst lapidar, mit großer Liebe zum Leben auch da, wo es schrecklich ist oder verrückt, oder beides. Man merkt nicht gleich, wie verstörend das ist, das Entsetzen kommt erst nachts, wenn man von diesen Geschichten träumt.

Eine Art Menschlichkeit

Dieser Grünberg ist Niederländer; erst 39, doch einer der großen Autoren unserer Zeit. 20 Romane hat er geschrieben, Essays und Gedichte, und wer etwas kennt, will alles lesen. Grünberg nähert sich Schicksalen mit dem ruhigen Blick dessen, der alles weiß und nichts weglassen wird, auch wenn es schmerzt.

„Mitgenommen” spielt in einem nicht näher benannten südamerikanischen Land, in dem Krieg herrscht, Krieg und Revolution. Es ist ein Roman und eine gewaltige Parabel, weise, böse, traurig und auf sanfte Weise unversöhnlich.

Major Anthony hat ein Problem. Und keine Chance. Er funktioniert passabel in seinem mörderischen Beruf, aber seine Leute nehmen ihn nicht ernst. Warum? Vielleicht, weil er keine Kinder zeugen kann. Das trägt ihm Spott ein. Die schlichtzickige Gattin nimmt dem Major sein Unvermögen übel, sie betrügt ihn mit seinem Vorgesetzten, doch auch der versagt ihr das Kinder: Bis nach dem Krieg, sagt er.

Versehentlich die Eltern erschießen lassen

Eines Nachts setzt der Major seiner Frau die schwarzhaarigschöne Lina auf die Bettkante: Das ist jetzt dein Kind. Die Frau schreit. Sie will ein Kind aus dem eigenen Bauch; sie weiß nicht, dass Lina quasi aus dem Dienstbauch des Majors stammt. Er hat versehentlich ihre Eltern erschießen lassen. Revolutionäre. Eigentlich hätte er Lina mitbeseitigen müssen, aber er hatte Verwendung für sie. Dachte er. Der Major hat eine sehr eigene Art Menschlichkeit entwickelt, sie wird immer wieder andern zum Verhängnis und am Ende ihm selbst.

Dies ist ein Buch über Frauen, und über Machtstrukturen. Grünberg verdeckt sie, übermalt sie, zeichnet sie sacht mit großer Genauigkeit, bis sie klagend vor dem Leser stehen. Dass Lina, die erst geliebte, dann ungewollte, hin und hergeworfene, immer wieder mitgenommene und irgendwo abgestellte Tochter der Revolution am Ende ihres seltsam geretteten Lebens eine abgeklärt fühllose, ungreifbare Waffenhändlerin wird - man könnte es als allzu gezwungenen Scherz abtun. Das Leben besteht aber aus solchen Scherzen.

Ein großartiges Buch.

  • Arnon Grünberg, Mitgenommen, Diogenes, 752 Seiten, 22,90 Euro