Ruhrgebiet.

Der Essener „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr bekommt am Freitagabend im Heinrich-von-Kleist-Forum in Hamm den 25. Literaturpreis Ruhr verliehen. Jens Dirksen sprach mit dem Preisträger.

Ihr „Schreibheft“ arbeitet an der beständigen Erweiterung unseres Horizonts von Weltliteratur. Der Literaturpreis Ruhr ist aber ein regionaler – wie regional kann, darf, muss Literatur sein?

Norbert Wehr: Norbert Scheuers Bücher über Kall, ein kleines Dorf in der Eifel, oder William Faulkners Romane über Yoknapatawpha County, ein Ort in der amerikanischen Provinz, sind Beispiele für große Literatur, für Weltliteratur. Was diese Romane zu Weltliteratur macht, ist die besondere Wahrnehmung, die besondere Sprachbehandlung. Will sagen: Alle Stoffe, auch die regionalsten, die provinziellsten, auch die marginalsten, können zu großer Literatur werden.

Im übrigen: Eine Provinz gibt es heute ja gar nicht mehr, seit jedermann ans Internet angeschlossen ist. Und da man, um aufs „Schreibheft“ zu kommen, für die Herausgabe einer Literaturzeitschrift keine großen Apparate braucht, wie bei Theatern oder Museen, ist sie an jedem Ort möglich, also auch in Essen, also auch im Ruhrgebiet. Die von mir am meisten geschätzte Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik, „Zwischen den Zeilen“, wird von Urs Engeler in Holderbank, einem kleinen Dorf in der Nähe von Solothurn herausgegeben.

Das Ruhrgebiet kommt im „Schreibheft“ so gut wie nie vor. Warum?

Wehr:Warum muss ich mich denn in einer Literaturzeitschrift mit dem Ruhrgebiet beschäftigen? Ist das Pflicht, wenn man hier lebt und arbeitet? Ich habe nie verstanden, warum ich immer danach gefragt werde. Ich weiß nicht, ob man einem Verleger, einem Autor in Hamburg oder München diese Frage ebenfalls stellen würde. Für meine Zeitschrift interessiert mich das Ruhrgebiet als Stoff nicht per se. Im „Schreibheft“ kommen aber viele Fragen, Motive und Themen zur Sprache, die von allgemeiner Brisanz sind – und deshalb natürlich auch für das Ruhrgebiet gelten.

Die Ruhrgebietsliteratur hat sich stark verändert, hat nur noch wenig zu tun mit dem „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ oder den „Bottroper Protokollen“.

Wehr:Das stimmt. Ich bin deshalb nicht sicher, ob ich den Preis vor 15 Jahren auch bekommen hätte. Da gab es im Schriftstellerverband, in den Kulturdezernaten, in den Jurys noch viele Apologeten eines, wie ich meine, falsch verstandenen Realismusbegriffs.

Und eine gewisse Intellektuellenfeindlichkeit ...

Wehr:Ja, aber die gab es ja nicht nur hier. Und nein. Als ich Ende der 70er-Jahre an die Uni Essen kam, gab es ein sehr vitales, sehr anregendes literarisches Milieu, mit fantastischen Literaturwissenschaftlern: Jürgen Manthey, zum Beispiel, war gleichzeitig Cheflektor bei Rowohlt und lud zweimal im Jahr interessante „poets in residence“ ein, Hans Hagen Hildebrandt und Wolfgang Fietkau hatten bei Adorno und Lacan studiert, Erhard Schütz war da, und später kam noch Manfred Schneider dazu, der Medienwissenschaftler.

Das ist lange her. Heute ist es anders, trotzdem arbeiten Sie nach wie vor in Essen.

Wehr:Ich habe immer ein eher widerständiges Milieu geschätzt und war froh, nicht allzu sehr in den Literaturbetrieb involviert zu sein. Denn diese Distanz, diese Randständigkeit, die nichts mit Arroganz, vielmehr mit einer gewissen Scheu zu tun hat, ist ein Garant dafür, sich ein unabhängiges Urteil über Literatur zu bewahren. Insofern ist das Ruhrgebiet nach wie vor ein guter Humus für mich.

Und inzwischen arbeiten Sie zur Hälfte auch in Köln ...

Wehr:Ja, und auch das ist ja keine literarische Metropole. Es gibt in Köln zwar den WDR und den Deutschlandfunk, es gibt Verlage, es leben Journalisten und Kritiker dort. Aber die Kölner Schriftsteller sind genauso nach Berlin abgewandert wie die aus dem Ruhrgebiet.

Köln hat im Unterschied zum Revier allerdings ein Literaturhaus.

Wehr:Na und? In Essen gibt es in der Buchhandlung „Proust“, im Kulturwissenschaftlichen Institut und im Folkwang Museum herausragende Lesungen, auf höchstem Niveau. Die können allemal mit dem Programm in Köln mithalten.

Sie müssen für jede Ausgabe des „Schreibheft“ aufs Neue eine Finanzierung hinbekommen. Zehrt das nicht an den Nerven?

Wehr:In Österreich und Belgien gibt es großzügige Verlags- und Zeitschriftenförderungen: Wenn man dort kontinuierlich gute Arbeit nachweist, bekommt man regelmäßige Förderungen – zwar nicht auf Dauer, aber mit einer mittelfristigen Perspektive ... Das ist natürlich weniger nervenzehrend.

Verleitet das aber nicht zu einer gewissen Trägheit?

Wehr:Ja, sicher. Und ich will es hier auch gar nicht reklamieren. Denn aus der Unsicherheit entsteht eine gewisse Dringlichkeit. Man spürt, ob man seine Arbeit tatsächlich machen will, und muss. Das ist ein kreativer Motor, auch bei der Beschaffung von notwendiger Unterstützung. Aber sicher zu wissen, dass ich das „Schreibheft“ auch in einem Jahr noch machen kann, wäre schon hilfreich für manches.

Auch interessant

Was fehlt dem „Schreibheft“ am meisten?

Wehr:In den 80er-Jahren, als sich die Zeitschrift bundesweit etabliert hat, gab es fast für jede Ausgabe große Aufmerksamkeit. Heute gibt es in den Medien leider immer weniger Orte, an denen Zeitschriften besprochen werden.

Und in welchen Fällen werden sie besprochen?

Wehr:Immer wieder, bei besonderen Themenheften. Als wir ein Heft über den Übersetzungsstreit von Herman Melvilles „Moby-Dick“ gemacht haben. Oder das Heft über Ezra Pound in der Psychiatrie. Oder das mit Peter Handke über Literatur aus Serbien. Das sind Hefte aus den letzten Jahren, die zu echten Longsellern geworden sind. Dann gibt es aber auch immer wieder zwei, drei Hefte hintereinander, die mit genausoviel Herzblut, mit genausoviel Wissen und Kompetenz gemacht sind, für die sich nur die happy few interessieren.

Dabei kann man den Nachdruck der alten „Schreibheft“-Bände, der von Zweitausendeins produziert wurde, heute wie ein Lexikon benutzen.

Wehr:Eine Literaturzeitschrift gilt als vorläufiges Medium, als eine Publikation zwischen Zeitung und Buch. Ich, dagegen, versuche, durch exklusive Beiträge und eine strenge Dossier-Form eine größere Haltbarkeit der Hefte zu erreichen. Deshalb eignen sich die Hefte auch dazu, wie ein Buch gelesen und rezipiert zu werden. Und im Falle des Reprints wie ein Lexikon.

Wahrscheinlich hat der Regionalverband Ruhr Sie als Preisträger ausgewählt, um im Kulturhauptstadtjahr dezidiert Qualität auszuzeichnen.

Wehr:Unter den bisherigen Preisträgern sind schon sehr gute Schriftsteller: Ralf Rothmann zum Beispiel, Brigitte Kronauer, Barbara Köhler, Marion Poschmann, Nicolas und Katharina Born – Autoren, die auch ich zum Teil publiziert habe. Ich bin in diesem Chor nicht der erste, der sich durch Qualität seiner Arbeit auszeichnet.

Wie beurteilen Sie die Qualität der Kulturhauptstadt?

Wehr:Die Neugierde, die Aufmerksamkeit für das Ruhrgebiet ist gewachsen, viele Leute sind gekommen. Das ist erfreulich, das ist gut. Ich bedaure allerdings, dass es nicht genug anspruchsvolle literarische Veranstaltungen gab. Die Literatur ist wieder mal zu kurz gekommen. Es gab unter den Organisatoren keinen, der sich ernsthaft für Literatur interessiert hat. Da ist leider eine Chance vertan worden.

Sie haben sich ja auch dezidiert darauf bestanden, Ihre Veranstaltung mit Herta Müller im Januar nicht unter dem Banner der Kulturhauptstadt laufen zu lassen.

Wehr:Das hat mir Ärger eingebracht, ja. Alle unsere literarischen Veranstaltungen im Museum Folkwang laufen nicht unter dem Logo der Kulturhauptstadt. Wir haben einfach weiter gemacht wie zuvor. Und das machen wir auch in den nächsten Jahren, wenn das Kulturhauptstadtjahr vorbei ist.