Köln. .

US-Starautor Jonathan Franzen („Die Korrekturen“) fängt seine Romane gern in Deutschland an – zum Beispiel auch sein jüngstes Buch, „Freiheit“. Im Interview spricht er über deutsche Literatur, die Familie und eine Einladung von Präsident Obama.

Der US-amerikanische Autor Jonathan Franzen (51) ließ seine Leser beinahe ein Jahrzehnt lang warten auf den vierten Roman: „Freiheit” erschien vor einigen Wochen. Zeit nahm er sich auch im Gespräch mit Britta Heidemann – und ließ immer wieder Sekunden schweigend verstreichen, statt schnelle, routinierte Antworten zu geben.

Sie haben einen Teil des Buches in Berlin geschrieben?

Jonathan Franzen:(auf deutsch) Ungefähr die ersten sechs Seiten. Ich habe die Arbeit an dreien meiner Romane hier in Deutschland begonnen. Vielleicht Zufall... Aber ich habe deutsche Literatur studiert. Das hat meine Vorstellung von dem, was Literatur ist, geprägt. Ich nehme nicht am kulturellen Leben teil, wenn ich hier bin, ich beobachte die deutschen Vögel, aber ich gehe nicht ins Theater oder ins Museum.

Was haben Sie von deutscher Literatur gelernt?

Franzen:(Sehr langes Schweigen.) Ich denke, ich habe die wichtigsten Lektionen gelernt in einem Seminar über moderne deutschsprachige Prosa - am Beispiel von Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Kafkas „Prozess“, Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Manns „Zauberberg“. Es ging in jedem der Bücher um das gleiche Thema. Der Protagonist entflieht der Realität und das Buch jagt ihm hinterher, damit er sich der Realität stellt - insbesondere seiner Sterblichkeit. Alle vier Autoren gingen ein hohes Risiko ein, sie versuchten, etwas für sie Lebenswichtiges heraus zu finden. Das ist mein Vorbild.

Was möchten Sie mit ihren Romanen erreichen?

Franzen:Ich möchte dem Leser ein fesselndes Erlebnis bescheren. Das die Möglichkeit bietet, mit Teilen seines Selbst in Kontakt zu treten, die man für eine Weile vergessen hatte - weil die Welt so beschäftigt, so laut ist. Das ist es schon.

Was soll daraus entstehen, wenn ich mit diesen Teilen in Kontakt trete?

Franzen:Ich würde hoffen, dass daraus Vergnügen entsteht. Ich selbst lese zum Vergnügen.

Ist das Schreiben auch eine Freude?

Franzen:Das Schreiben ist das, was ganz am Ende steht, es dauert gar nicht so lange. Und es hat seine vergnüglichen Momente, ja. Die andere Arbeit davor ist elend. Scheußlich. Es ist ein mühevolles Versagen, Jahr um Jahr. Ich arbeite, um etwas zu schaffen, das mühelos scheint.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir etwas über Ihr Hobby erzählen würden: das Beobachten von Vögeln. Wie hat das angefangen? Warum tun sie das?

Franzen:Als ich diese deutschsprachigen Autoren las und danach über Weihnachten zu meiner Familie heimkehrte, sah ich plötzlich alles mit anderen Augen. Das Kräftespiel war mir klar. Ich war noch immer verstrickt, aber ich sah meine eigene Verstrickung. Es war ein ähnliches Erlebnis, als ich das erste Mal, vor zehn Jahren, zur Vogelbeobachtung in den Central Park ging. Ich dachte, ich kenne den Park. Und dann zeigte mir ein Vogelbeobachter durch das Fernglas in drei Stunden 50 verschiedene Vogelarten. Außergewöhnliche, wundervolle Tiere. Es war, als würde mir eine neue Dimension des Lebens eröffnet.

Ihr Roman liest sich wie ein Loblied der Familie, dabei steht doch genau dieses Lebensmodell gerade zur Debatte?

Franzen:Ich bin mir gar nicht so sicher, ob meine Romane ein Loblied der Familie bedeuten… Ich sehe Familie eher als unvermeidlichen Teil der menschlichen Existenz - solange Kinder nicht in Flaschen produziert werden. Mich verwirrt die Auffassung, dass Familie verzichtbar sein könnte. Von welcher Idee, welcher Angst, welchem Gefühl wird diese Debatte in Deutschland getrieben?

Vielleicht vom Wunsch der Menschen, frei zu sein von allen Bindungen?

Franzen:Diese Menschen haben mein tiefes Mitleid. Vielleicht stimmt meine Idee von Freiheit nicht mit ihrer überein. Es scheint mir die Idee eines Vierzehnjährigen: Oh, wenn meine Eltern nur nicht wären, dann wäre alles toll! Als ob das Freiheit schenken würde, ein authentisches Leben. Das ist dumm!

Darf ich Sie fragen - wenn Sie finden, es gibt keine Alternative zur Familie, warum haben Sie selbst keine Kinder?

Franzen:Ich habe mir selbst diese Frage gestellt und an verschiedenen Punkten meines Lebens damit gerungen. Mein Wunsch nach Kindern war nicht stark genug, um Beziehungen zu zerstören, nur um sie zu bekommen. Und ich musste erkennen, dass ich einfach keine kleinen Kinder mag - Kinder fangen an, interessant zu werden, wenn sie vielleicht zehn Jahre alt sind. Viele Menschen sind tolle Eltern. Nicht ganz so viele Menschen sind gut darin, Romane zu schreiben. Wenn ich Kinder hätte, hätte ich sicherlich weniger Zeit, Romane zu schreiben.

Kennen Sie persönlich eine wirklich glückliche Familie?

Franzen:Ich denke, ich kenne einige - aber nicht gut. Ich wäre nicht befreundet mit jemandem, der aus einer glücklichen Familie stammt.

Warum nicht?

Franzen:Ich würde mich schämen, weil ich eine so dunkle, negative Person bin. Es ist ein spezielles Erlebnis, sich mit jemandem aus einer glücklichen Familie zu unterhalten, eine Art Tortur. Sie meinen, humorvoll zu sein - aber sie haben keine nachhaltige Beziehung zur Depression, sie haben keinen unlösbaren Konflikt in ihrem Leben, sie mussten sich nie einen echten Sinn für Humor erarbeiten. Das Glück ist nicht sehr intereressant.

Wären Sie gerne glücklich?

Franzen:Ich habe durchaus Glück erlebt. Das ganze letzte Jahr, zum Beispiel, als ich den Roman schrieb. Das war ein gutes Jahr.

Barack Obama hat Ihren Roman gelesen - hat er Sie schon angerufen und gesagt, wie toll er ihn fand?

Franzen:Noch nicht. Aber ich werde ihn Ende des Monats treffen.

Wo denn?

Franzen:Im Weißen Haus.

Sie sind eingeladen?

Franzen:Ja.

Wie fühlen Sie sich?

Franzen:Das ist das Aufregendste, das sich durch den Roman ergeben hat. Barack Obama ist ein Held für mich. Der erste Präsident, den ich wirklich mag.