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Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch („Die Entdeckung des Himmels“, „Das Attentat“) starb am Samstag im Alter von 83 Jahren.

Erinnern wir uns an Verstorbene, dann blitzt oft ein Bild auf in unserem Innern – eine Geste, ein Blick. Oder ein Satz, der ein Leben treffend einfängt. Von Harry Mulisch, der am Samstag mit 83 Jahren seinem Krebsleiden erlag, bleibt eine ungewöhnliche Selbstbespiegelung ins Gedächtnis gebrannt: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.”

Mulisch wurde am 29. Juli 1927 in Haarlem geboren, Sohn einer Jüdin und eines aus dem Sudetenland stammenden ehemaligen Offiziers, der in die Niederlande ausgewandert war. 1936 ließen die Eltern sich scheiden. Während der Besatzungszeit arbeitete Mulischs Vater für eine Bank, die beschlagnahmtes jüdisches Eigentum verwaltete. Immerhin reichte sein Einfluss aus, die Ex-Frau und den Sohn vor Deportation zu bewahren.

Kann ein Leben zerrissener, irrwitziger beginnen? Früh widmet sich Harry Mulisch der literarischen Aufarbeitung; er wird eine der wichtigsten Stimmen der Niederlande und ihr ewiger Kandidat für den Literaturnobelpreis (den er nie bekam). Sein Werk ist bestimmt von Gegensätzen: Schicksal und Zufall. Täter, Opfer. Aber auch: Religion und Wissenschaft. Skepsis und Mystizismus. Sein erzählerischer Tonfall bleibt dabei stets bestimmt von einer liebevollen Ironie; wenngleich der Agnostiker mit den jüdischen Wurzeln seine Protagonisten oft ungestüm ins Leben wirft – oder mit Hilfe des Aberwitzes daraus befreit.

So wird der Astronom Max Delius, jener Mulisch so ähnelnde Held in „Die Entdeckung des Himmels”, vom Meteoriten erschlagen – weil der Himmel über Haarlem es so will. Ähnlich überfallartig setzt Mulisch seine Helden der Liebe aus. „Ich hatte Brot gekauft. Es war Samstagnachmittag, eine schwache Februarsonne schien auf die Stadt.” Hier beginnt die Leidenschaft zwischen „Zwei Frauen”, ein mystischer Moment. Das Ende wird ein Blutbad sein. „Unser Leben ist ein Papierknäuel, mit dem die Katze spielt“, heißt es.

Mulischs Schlussfolgerung aus erlebten Schrecken der Vergangenheit aber ist nicht jene Schicksallosigkeit des Kollegen Kertész, sondern das Bemühen, den Zufall zu umarmen, ihn als Zeichen zu sehen. Im Roman „Das Attentat” verdichtet sich dieses Bemühen gar zum Appell. Eine Kettenreaktion der schuldhaften Verstrickung löscht Anton Steenwijks Familie aus; Anton will vergessen – doch Mulisch lässt ihn nicht. Lässt uns nicht. In dieser Geschichte nach Art eines Thrillers, die sein ganzes Talent offenbart, nähert er sich moralischen Kernfragen.

Harry Mulisch war einer der letzten großen Literaten: der uns den Spiegel der Vergangenheit vorzuhalten wagte.