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Das Hauptproblem von Castingsendungen ist nicht das Vorgaukeln von Karrierechancen, sondern der emotionale Overkill. Bei X Factor wird permanent geheult – aus Mitleid, aus Rührung, aus Begeisterung. Mit wem soll man da noch mitfiebern?
Louis Begley hat seinen ersten Roman mit 54 Jahren geschrieben, Martina Navratilova hat mit 46 Wimbledon gewonnen und Sylvester Stallone spielt mit 64 immer noch Actionhelden. Bei X Factor dagegen hört man Sätze wie „Ich bin 25, viel Zeit habe ich nicht mehr.“ Was ist da schiefgelaufen? Seit wann präsentieren sich Menschen, die kaum von der Schule kommen, wie Paralympics-Kandidaten?
Vielleicht hat die Casting-Generation sie mittlerweile aufgesaugt, die Phrase von der „einen großen Chance“, die bei X Factor wiederholt wird wie ein Rosenkranz. Das würde auch erklären, warum in dieser Sendung so unfassbar viel geheult wird – aus Mitleid, aus Rührung, aus Begeisterung, aus welchem Grund auch immer. Gut möglich, dass das Hauptproblem der Castingsshows gar nicht das Vorgaukeln von Karrierechancen ist, sondern die ständige Öffentlichmachung von Emotionen. Wenn alle heulen, mit wem soll man dann noch mitfiebern oder gar -fühlen? Es fällt schwer, bei X Factor nicht abzustumpfen.
Sarah Connor - alles wirkt einstudiert
Die Moderatorin kommt erschwerend hinzu. Kaum zu glauben, dass man so etwas mal sagen muss, aber gegenüber Sarah Connor wirkt selbst Heidi Klum so authentisch wie eine sizilianische Omi. Alles kommt bei Connor einstudiert rüber – die Lehrerinnen-Geste mit dem Kuli, das Mann-bin-baff-Staunen mit offenem Mund, die Formulierungen („überzeug mich jetzt“). Selbst die Tränen scheinen aus der Pipette zu kommen. Wenn es einen Emotionen-Regler gäbe, er stünde bei Connor immer ein paar Klicks im roten Berich. Es ist einfach „too much“.
Produzent George Glück und Trompeter Brönner fangen die Theatralik ein bisschen ab und wirken nicht ganz so kamera-gestört. Im Grunde fragt man sich bei beiden, was sie in dieser Sendung eigentlich suchen. Geld kann es nicht sein, davon haben beide genug. Vielleicht wollte Glück, der Strippenzieher im Hintergrund, auch mal vor der Kamera stehen. Dafür wirkt er aber nicht eitel genug.
Bleiben die Kandidaten. Hat X Factor mehr Niveau als Popstars oder DSDS? Mag sein. Und doch scheitert auch diese Sendung an den „natürlichen“ Grenzen des Castingformats. Ein gutes Beispiel sind die Kandidaten Florian und Esther. Die beiden werden als Klassik-Fans angekündigt. Produzent Glück möchte, dass sie „I Gotta Feeling“ von den Black Eyed Peas singen. Das Opern-Duo weigert sich. Es kommt zum Eklat, die beiden fliegen raus. Fragt sich, wer hier naiver ist – Glück, weil er den beiden ein zu ihrem Repertoire total unpassendes Stück vorschlägt, oder die beiden Klassik-Fans, weil sie ernsthaft glauben, in einer Sendung wie X Factor individuelle Freiheiten und Formatkritik einbringen zu können? Am Ende ist die Situation peinlich für alle Beteiligten – auch für Glück, der unverhofft als Musikdiktator dasteht.
Und so ist X Factor eben doch ein im wörtlichen Sinne beschränktes Format, dessen Aneinanderreihung von Rührstücken einem als Zuschauer jede Empathie austreibt. Schade. Manche Kandidaten hätten durchaus Aufmerksamkeit verdient.