Essen. .

Wie Cilli Hagedorn sich mit 85 Jahren ihr gutes Aussehen erklärt, unter kreischenden Teenagern in der Casting-Serie „X-Factor“ landete - und was ihr die Kultkneipe „Cillis MillJöh“ bedeutete.

Cilli Hagedorn mit einem ihrer alten Notenbücher. Foto Alexandra Umbach
Cilli Hagedorn mit einem ihrer alten Notenbücher. Foto Alexandra Umbach © WAZ FotoPool

Casting-Shows - das sind kreischende Teenies, die sich im Sangeswettstreit zerfleischen. Neulich bei Vox sah man eine Bewerberin, die um Jahrzehnte älter ist, bei guter Stimme, mit bodenständigem Humor und ansteckendem Lachen, eine, die sich kein „X für ein U“ vormachen lässt – gerade dann nicht, wenn es casting-bedingt auf den „X-Factor“ ankommt.

Cilli Hagedorn war’s, die der Sender Vox eingeladen hatte. Und wenn den Älteren der Name bekannt vorkommt: Ja, es ist die Cilli, die die legendäre Kneipe „Cillis Milljöh“ an der Rüttenscheider Straße hatte. 85 ist sie inzwischen.

Aber zurück zum Casting: „100, vielleicht 150 Teenager standen da“, berichtet Cilli Hagedorn, die - das muss man wissen - nicht nur Wirtin war, sondern auch gesungen hat, dabei in ihrem langen Leben einiges erreichte und vieles sah. „Natürlich hatten wir keine Lust uns da anzustellen und wollten schon wieder nach Hause fahren.“ Doch im Moment der Kehrtwende eilte man Cilli und ihrem Begleiter, dem Banjo-Spieler Jimmy Stöckius, zu Hilfe. Ein Seiteneingang ist die Rettung. Die Essenerin übersteht souverän das erste Vorsingen, überzeugt auch im zweiten Durchgang.

Dienstag Abend bei Cilli im Wohnzimmer. Wir schauen die Vox-Sendung. Sie nutzt die Werbepause und erzählt aus ihrem bewegten Leben, von Berlin, der Kneipe in Essen.

1924 geboren, verlebte sie trotz NS-Zeit und Krieg eine glückliche Jugend, schlug eine Bürolaufbahn ein, besuchte nebenbei die Schauspielschule, nahm Ballettunterricht. „Ich habe schon immer gern gesungen und gespielt.“ Sie gab Auftritte in Lazaretten, machte Fronttheater, sang im Vorprogramm der Marlene Dietrich. „Wir haben wirklich Glück gehabt. Das Kriegsende habe ich in Berlin erlebt. Damals haben wir in einer Keller-Gemeinschaft gewohnt.“

Dennoch: Die erste Chance, aus Berlin rauszukommen, ergriffen Cilli und ihre damalige Gesangspartnerin, „wir sind als ,Duo Starlett’ nach Italien gegangen. Lampenfieber habe sie nie gehabt: „Wenn Du nichts kannst, musst Du nicht auf die Bühne gehen, hab’ ich immer gedacht.“

Ein früher Szenetreff

Die Kultkneipe „Cillis Milljöh“, die 1968 auf der Rüttenscheider Straße eröffnete. Foto: Alexandra Umbach
Die Kultkneipe „Cillis Milljöh“, die 1968 auf der Rüttenscheider Straße eröffnete. Foto: Alexandra Umbach © WAZ FotoPool

Fünf Jahre lebte und arbeitete sie in Italien, ging erst zurück, als eine schwere Krankheit sie dazu zwang. Doch die Rückkehr sollte sich als Glücksfall erweisen, denn „in Berlin habe ich meinen ersten Mann kennen gelernt.“ Sechs Jahre nach der Heirat, 1961, folgte der Umzug nach Essen. „Er war ein hervorragender Übersetzer von Ideen und hat als politischer Karikaturist gearbeitet.“ Bei der NRZ, dem WAZ-Schwesterblatt, ist „Tüte“ Hagedorn noch heute eine Legende

Einen großen Bekanntenkreis scharte sie in Essen um sich – „bei uns war immer was los.“ So entstand die Idee, die Bewirtung von Gästen zum Beruf zu machen, „da habe ich 1968 die Kneipe ,Cillis MillJöh’ eröffnet. Das Interieur gestaltet von Theaterleuten, eine Chefin, die sich mehr als Gastgeberin, denn als Wirtin verstand – rasch wurde die Kneipe zum Szenetreff. Doch obwohl Cilli Hagedorn das Lokal rückblickend ihr „Wohnzimmer“ nennt, verkaufte sie nach 14 Jahren. „Mein zweiter Mann war ein absoluter Anti-Gastronom“.

Die Werbepause endet – und nun läuft Cilli Hagedorns eben so rasch erzähltes Leben über den Bildschirm. Still verfolgt sie den Bericht, lächelt, nickt zufrieden. Eine gute Figur, befindet sie, habe sie vor der Jury um Sarah Connor gemacht. Nicht glauben könne man, dass die Dame bereits 85 Jahre alt sei, jünger sehe sie aus: „Positiv denken und Nivea benutzen“, antwortet Cilli Hagedorn und lacht, als sie sich im Fernsehen kesse Antworten geben hört. „Ich war ja aufgeregt wegen der Kameras, ich weiß nicht, was ich alles gesagt habe.“

Dann singt sie, „Ham Se nich ‘n Mann für mich ...“ Und dabei wirkt sie nun gar nicht mehr aufgeregt. Auch nicht, als die Jury ihr Urteil verkündet. „Sie haben wirklich Stil“, sagt man ihr. Nur sei sie eben nicht die Richtige für das Casting-Format. Cilli Hagedorn hat all dies live erlebt, sieht es jetzt im Fernsehen noch einmal, achselzuckend. Nur stellt sich die Frage, warum man die 85-Jährige überhaupt durch die ersten Casting-Runden geschleust hat. Im Fernsehen hört man sie sagen, sie habe eben wissen wollen, ob sie den X-Factor habe.

Auch darauf hat die Jury eine Antwort: „Sie haben es. Dafür brauchen Sie uns aber nicht.“ Wohl wahr. Cilli Hagedorn ist ein Ereignis, und das ganz ohne Fernsehen.