Essen. Der Schriftsteller Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, gilt als Chronist des Ostens – der 1995 erschienene Story-Band „33 Augenblicke des Glücks” spielt in St. Petersburg, spätere Romane erzählen von Wende und Nachwende. Im Gespräch berichtet er von Mut, Hoffnung und Ettäuschung.

Herr Schulze, was war für Sie der wichtigste Moment im Herbst 1989?

Ingo Schulze: Es gab viele wichtige Momente. Ganz entscheidend war für mich der 2. Oktober, als ich das erste Mal in Leipzig bei der Demonstration dabei war. Aus tausenden Kehlen dieses „Stasi raus!” zu hören oder „Neues Forum zulassen!” – das fuhr einem auf gute Art und Weise in die Knochen. Ich musste mich zuerst überwinden, da mitzubrüllen, denn das gemeinsame Brüllen war ja nicht unbedingt meine Welt, aber da brüllte man sich die Angst von der Seele. Dieses Gefühl, Teil einer illegalen Demonstration zu sein, war vergleichslos. Man wusste nur, dass es zu anderen Zeiten die schlimmsten Konsequenzen gehabt hatte. Besonders groß war die Angst dann am 9. Oktober, der für mich der entscheidende Tag des Herbstes '89 war. Zwei Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR glaubten wir, dass die Schonzeit nun vorbei wäre, dass jetzt die Opposition mit aller Gewalt niedergeschlagen werden würde, wie es vier Monate zuvor in China gewesen war. Doch dann waren da 70 000 Leute in Leipzig, die friedlich die Internationale sangen – darauf war die andere Seite nicht vorbereitet.

Wie haben Sie sich gefühlt?

Ingo Schulze: Ich habe in den Oktobertagen zum ersten Mal verstanden, was dieses Fraternité der Franzosen bedeutet: dass man sich auf Leute, die man überhaupt nicht kannte, verließ, dass man füreinander einstand, dass man gemeinsam für Freiheit und Souveränität etwas riskierte.

Sie waren: ein Volk?

Ingo Schulze: Der Ruf „Wir sind das Volk!” ist am 2. Oktober entstanden, als durch das Megaphon immer klang „Hier spricht die Volkspolizei, räumen Sie die Straße!” und jemandem einfiel zu rufen: Wir sind doch das Volk, ihr seid nur die Polizei. Da war ein Gefühl von Souveränität, die man gewinnt, eine neue innere Haltung. Ich weiß noch, wie wir im Oktober in einer Wohnung saßen und das Neue Forum in Altenburg gründeten – die Euphorie in Leipzig, das war das eine. Das andere war, in einer Kleinstadt mit Namen und Adresse dafür einzustehen. Das war die eigentliche Überwindung, für sich selbst die Konspiration aufzukündigen.

Wie beurteilen Sie Ihre Visionen heute?

Ingo Schulze: Am Anfang ging es einfach darum, dass es Reformen geben sollte. Wir dachten, wir machen so eine Art Dubcek-DDR. Ich habe erst Anfang Dezember kapiert, dass das offenbar mit der „deutschen Frage” zu tun hat. Es ist schade, dass es statt einer Vereinigung nur ein Beitritt geworden ist. In erster Linie trägt daran eine über Jahrzehnte unfähige DDR-Führung Schuld, aber auch wir Ostdeutschen, die dem Weihnachtsmann glauben und die D-Mark zum Anfang der großen Ferien haben wollten. Dazu kam, dass Kohl gerne den Weihnachtsmann gegeben hat.

Sind Ost und West denn heute einig Deutschland?

Ingo Schulze: Für mich ging es schon damals nicht um Ost und West, sondern um Oben und Unten. In den Problemen sind wir vereint, auch wenn im Osten manches noch augenscheinlicher ist als im Westen, zum Beispiel die Verödung ganzer Landstriche.

Wie lesen Sie vor diesem Hintergrund das Koalitionspapier?

Ingo Schulze: Es war eigentlich nichts anderes zu erwarten, als dass es niederschmetternd wird. Wer viel verdient, bekommt viele Erleichterungen – wer wenig verdient, naja, das kann man eigentlich vernachlässigen. Der Spielraum des Gemeinwesens wird systematisch verkleinert, es erstickt an den Schulden. Dass Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit keine Freiheit ist, will man nicht hören. Das Hauptübel, und darüber kommt ja gar kein Diskurs mehr zustande, das ist dieses Wachstumsdenken. Das halte ich für verheerend. Es geht doch darum, dass man versucht, sowohl die Arbeit als auch den Gewinn so gerecht wie möglich zu verteilen.

Wo sehen Sie Deutschland in 20 Jahren?

Ingo Schulze: Ich hoffe, dass es genug Gegenkräfte gibt, die die Ökonomisierung unseres Lebens aufhalten und rückgängig machen. Und ich hoffe, dass wir nicht weiter der Fata Morgana des Wachstums hinterherlaufen.