Essen. Essens Ballett-Intendant geht. Zum Abschied gab es Überraschungen vom Meister und jungen Kollegen. Das Publikum sprang von den Sitzen
Schaut her, ich kann auch anders! Das scheint Ben van Cauwenbergh, der scheidende Ballettintendant mit „Last“ (seinem letzten für das Aalto Theater gestalteten Ballettabend) all jenen zurufen zu wollen, die bislang seine Anleihen bei der Popkultur zu anbiedernd- und seine behutsam entstaubten Klassiker zu gefällig fanden. Ausgerechnet Erwin Schulhoff nimmt er sich für die Auftaktchoreographie des vierteiligen Abends vor. Wie er dessen Streichquartett Nr. 1, das sich in seiner spröden Komplexität förmlich gegen das Vertanztwerden sträubt, mit impressionistisch geführtem Pinsel souverän mit einem hüftschwingenden Revue-Ensemble à la Balanchine betupft, muss man gesehen haben! Wie er augenzwinkernd die jazzigen Elemente von Schulhoffs Kompositionen in heitere Kapriolen und frische, unverbrauchte Spitzensequenzen übersetzt, ist überraschend und zugleich sehr van Cauwenbergh: „Not Me, But Me“ lautet denn auch der Titel des Stücks,
Aalto-Ballett: Zwei Uraufführungen, drei Choreograf(inn)en
„Your attention, please“, das zweite Ballett - von der jungen Choreographin Ana Maria Lucaciu gemeinsam mit den Tänzern entwickelt - ist eine soziologische Studie: Auf tritt eine quirlig kreischige Amüsiergesellschaft zwischen Hyperaktivität und Erschlaffung – getanztes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom in bunten Kostümen (alle Kostüme des Abends: Bregje van Balen). Auch die Tanzsprache bewegt sich konsequent in der Postmodernen, findet aber keine neuen Vokabeln.
Aufwühlend dagegen der dritte Teil, dem Übergang vom Wachsein in den Schlaf gewidmet. Zu Franz Schuberts der Tod und das Mädchen sowie Philip Glass’ Konzert für Violine und Orchester entwickelt Armen Hakobyan ein Kaleidoskop aus sich rasch ablösenden und teilweise überlagernden Bildern. Tänzer bewegen sich vor- und in ansonsten leeren Bilderrahmen, schlängelnde Gliedmaßen neben kantigen Bewegungen. All das sehr nah an den zuckenden Chimären, die das eigene Bewusstsein an der Schwelle zum Schlaf erzeugt. Ein Übriges tut die exzellente Lichtregie von Kees Tjebbes (an diesem Abend für Licht und Bühne verantwortlich). Er lässt an diesem Abend auf der schwarzen Einheitsbühne durch den virtuosen Einsatz von Lichtkegeln, -vektoren und beweglichen Punkten immer wieder neue Räume, geometrische Perspektiven, mehr noch: wahre Seelenlandschaften entstehen.
Ballett „Last“ in Essen: Am Ende reißt es das Publikum von den Sitzen
Ein weiteres Kontinuum bildet die ambitionierte musikalische Untermalung durch das – stets auf der Bühne platzierte - Velvet Quartett, vier junge Künstlerinnen, die zur Zeit für einen Master Studiengang and der hiesigen Folkwang Hochschule eingeschrieben sind. Lediglich für das Finale werden sie abgelöst von Feniks Taiko, einem Perkussionsensemble, das die Tradition des japanischen Zeremonialtrommelns aufgreift. Hierzu gibt es eine gemeinsame Choreographie von van Cauwenbergh und Hakobyan. Rhythmisches Dröhnen begleitet Bewegungsabläufe von archaischer Wucht: Tanzende Derwische in weiten Hosen treffen auf eine kraftvoll elegant opponierende Gruppe von Tänzerinnen in schwarzen Trikots - das Publikum springt zum Schlussapplaus jubelnd von den Sitzen.
Schließlich gab es nicht nur einen fulminanten Ballettabend zu bestaunen, hier wurde im wahrsten Sinne des Wortes der Staffelstab an die nächste Generation übergeben: Armen Hakobyan wird gemeinsam mit Marek Tůma die Ballettintendanz am Aalto übernehmen.