Essen. Die Geschichte einer glücklosen Herrscherfamilie, ein Göttervater in der Krise und eine Welt im Krieg: Bei Essens „Ring des Nibelungen” nähert sich Dietrich Hilsdorf überraschend behutsam Wagners gefeierter „Walküre” - und legt bei seiner Inszenierung ein hohes Tempo vor.

Über Jahre hat die konservative Clique ihn als Opern-Zertrümmerer gescholten, nun hat er Freund wie Feind überrascht: Dietrich Hilsdorf schmiedet den zweiten Teil von Wagners „Ring des Nibelungen” als Kammerspiel der leisen Töne.

Leise Töne? So wie Stefan Soltesz mit Essens Philharmonikern pulsend durch Aufstieg und Fall eines göttlichen Plans schnellt, sind sie ein Gegensatz zu dem, was packend aus dem Orchestergraben tönt. Und dieses Tempo! Kaum ein Stündchen braucht Soltesz für den ersten Aufzug – bei Kollegen können es locker zehn Minuten mehr sein. Aber Soltesz' Kunst heißt: den grenzwertig kompakten, durchaus heroischen Grundklang nicht zur Wagner-Walze zu machen, die jede Transparenz überrollt. Erstaunlich, wie durchhörbar das Orchester bleibt. Es erntet Jubel. Und Soltesz strahlt.

Verlorene Schlacht

Wovon aber erzählt Dietrich Hilsdorf in der „Walküre”? Ein Kosmos befindet sich im Krieg, gestern, heute, morgen. Bis auf Fricka, Wotans weltfremde Gemahlin in Fürstinmutter-Gala, tritt hier fast niemand ohne Soldatenmantel auf den Plan. Und doch scheint die Schlacht verloren: Der klassizistische Säulenraum (Dieter Richter) mit seinen Rissen, seinen moosigen Wänden, seinen brüchigen Geländern atmet die abgelebte Majestät des Systems Wotan.

Wotan, ein Gott in der Krise. Das ist er bei Wagner, und er ist es bei Hilsdorf in souveränen Bildern von missbrauchten Gefühlen, von der Einsamkeit der Entscheidung.

Es ist das für Hilsdorf nicht unbekannte Motiv einer großen Tafel, um die das Geschehen siedelt: Aber allein als Ort kultivierter Kommunikation darf man sie nicht deuten. Als Wotan im zweiten Aufzug auftritt, erwarten sie ihn schon: der tumbe Waldhüter Hunding, die im Inzest selig-unseligen Wotanskinder Sieglind und Siegmund, Brünnhilde. Und sie alle stehen da als gesellschaftliche Verfügungsmasse, die Rolle erwartend, die ihnen Wotan zuteilt. Selten zu ihrem Besten, Staatsraison geht vor: der Wotan-Clan, eine glücklose Herrscherfamilie.

Glücklose Herrscher

Pracht-Wotan, glänzender Siegmund

Egils Silins ist ein junger Pracht-Wotan, kernig, mächtig, zugleich mit der Tugend eines Liedgestalters. Jeffrey Dowd, auch als Darsteller glänzend, hat im Siegmund vielleicht seine beste Wagner-Partie gefunden. Danielle Halbwachs' Sieglinde, Catherine Fosters Brünnhilde: beides Mordsstimmen mit nie versiegenden Ressourcen, doch bleiben sie (noch?) manch gestalterische Nuance ihrer Traumrollen schuldig.

Hilsdorf, das darf man ohne Vorwurf sagen, revolutioniert die Reihe der Walküre-Deutungen nicht, aber die präzise Musikalität und Textkritik, mit der er zu Werke geht, beeindruckt. Wie er die Pferde-Zoten der rotseidenen Walküren – Kostüme: Renate Schmitzer – um einen nachtwandlerischen Ball mit erschossenen Soldaten ansiedelt – die Damen begleiten bekanntermaßen tote Krieger nach Walhall –, wie er Wotans Feuerbann vom billigen Theaterdonner weg- und einem anrührenden Tischgespräch zuführt . . . Das sind Momente, in denen Wagners Musik nicht klischeelastig über die Szene wabert, da spricht sie zu uns, klar, aber doch nie so plump, dass man uns (anders als in Tilman Knabes Rotlicht-„Rheingold”) das Denken abnehmen möchte.

Essens Ring, zur Hälfte fertig. Vom obligaten halben Dutzend Buhs abgesehen, feierte man „Die Walküre” euphorisch. Im Herbst wird Siegfrieds Schwert geschmiedet.