Oberhausen. Revier-Literat im zwiespältigen Sinn: Ralf Rothmann kann seinen 70. Geburtstag feiern. Und tut das im Theater von Oberhausen – ausgerechnet!

Ralf Rothmann hat seine Lesung am Mittwochabend im Theater Oberhausen ganz bewusst auf seinen 70. Geburtstag gelegt. Das ist der vorläufige Schlusspunkt einer Entwicklung, die mit Blick zumal auf die frühen Romane dieses Autors spektakulär erscheinen muss. „Stier“, „Wäldernacht“, „Milch und Kohle“ und „Junges Licht“, erschienen zwischen 1991 und 2004, sind voll von jungen Menschen, die nicht gut zurechtkommen mit der oft groben, von Arbeit, Nutzen und Effizienz dominierten Alltagswirklichkeit des Reviers in den 60er- und 70er-Jahren.

Auch der Protest, wie bei den ‘68ern in „Stier“ oder Simons Ausbrüchen auf der Zündapp in „Milch und Kohle“ hat keine Chance gegen eine Welt aus Ratenzahlungen, Staublungen, Prügel und Resopaltischen, in der die Kaffeetassen genauso geschädigt sind wie die Seelen. Rothmanns Revier-Romanhelden wurden immer jünger bis hin zum zwölfjährigen Julian in „Junges Licht“, das Adolf Winkelmann so kongenial verfilmt hat. Es steckt viel Rothmann in diesen Figuren, die oft „verträumt“ neben der Handlung stehen, als Beobachter und Außenseiter zugleich – aber das ist für Schriftsteller ja der Normalfall, und zu Romanen, zu Kunstwerken, werden auch Rothmanns Bücher ja durch das Erfundene, Gemachte, die Sprache.

Unverwertete Notizen ergeben Ralf Rothmanns neue „Theorie des Regens“

Sie haben so etwas wie einen eigenen Sound, der vor allem aus dem hervorgeht, was zwischen und hinter den Zeilen steht. Er hat keine Scheu, das zu beschreiben, ja zu benennen, was man nicht sehen, hören, riechen oder schmecken kann – eine metaphysische Dimension haben alle seine Bücher.

Beim jüngsten, der gerade erschienen „Theorie des Regens“, ist es vielleicht am wenigsten verwunderlich: Bislang unverwertete Eintragungen aus drei Dutzend Notizheften sind das, entstanden in den letzten fünf Jahrzehnten. Manche Sätze sind wie Gedankenluftballons, die zur Probe aufsteigen durften, andere sind ausgereifte Aphorismen oder halbe Szenen. „Ich bete ohne ein Wort“, heißt es da, oder: „Dialektischer Querschläger der Woche: Nicht gelingt mir; alles ist vollkommen.“ Und: „Man ist schneller Anachronist, als die Zeit vergeht.“ Psychologische Spekulation („Jeder Fanatiker will einen geheimen Zweifel verbergen“) wechseln mit literarischen („Schöner Trost: dass die Poesie meistens intelligenter ist als der Autor“).

Ralf Rothmann verpasste den Mauerfall, weil er gerade in einer Schreib-Einsamkeit war

Als Rothmann Anfang der 80er-Jahre beginnt, Prosa zu schreiben, fühlt er sich „wie ein Fisch, der nach Jahren im lyrischen Aquarium ins offene Meer gelassen wird.“ Dass er den Mauerfall in seiner Schreib-Einsamkeit nicht mitbekommen hat, wirkt ebenso sympathisch wie seine Freude im Frühjahr 1984 über das erste Buch („als hätte ich meinem Skelett eine fehlende Rippe eingefügt“). Nicht Weniges ist auf den vielen Reisen Rothmanns von Japan bis Ecuador oder in griechischen Schreib-Exilen entstanden, immer wieder ist von einem Umzug innerhalb von Berlin zu lesen bis hin zum jüngsten nach Frohnau, wo ja einst auch Uwe Johnson und Günter Grass wohnten. Und heute die vorherrschende Haarfarbe weiß ist.

Auch seine erste Begegnung mit der „Frau meines Lebens“ beschreiben Rothmanns Notizen, damals lernte sie noch im Buchhandel, heute ist sie Literaturwissenschaftlerin. Die Anekdote ist halb liebevoll, halb nüchtern mit einem Spritzer Witz erzählt – ein Grund-Duktus dieses Buchs. Das bereits auf der ersten Seite, also sehr früh in Rothmanns Leben, die Theorie entwickelt, er sei durch die rüde Erziehung im Revier, wo Kinder wegen der ständig überarbeiteten Eltern noch mehr zu schweigen hatten als andernorts, zum Erzähler geworden: Er habe sich „auf den Wegen längs der Wälder an den Kohlehalden“ immer selbst erzählt, was er gerade erlebt hatte – und was ihm sonst noch an Geschichten durch den Kopf ging. Am Ende sei er froh gewesen, dass er nichts erzählen durfte, denn er sei nicht mehr in der Lage gewesen, auseinanderzuhalten, was erlebt und was erfunden war.

Das Verdrängte und Verschwiegene in den letzten drei Romanen

Beides geht auch in den letzten drei Romanen „Im Frühling sterben“, „Der Gott jenes Sommers“ und „Die Nacht unterm Schnee“ durcheinander. Darin setzt sich der Autor erzählerisch mit den Lebenswegen, Lebensereignissen seiner Eltern und der Generation auseinander, die als Jugendliche den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Im Gegensatz zu den ‘68ern, die mit ihren Schuldsprüchen ja nicht nur das Verdrängte und Verschwiegene ans Tageslicht holen wollten, sondern auch einen Machtanspruch moralisch legitimieren, geht Rothmann im Modus des Ergründens, Nachvollziehens und Verstehens vor. Seine Wahrnehmung, die seiner Literatur ist so ganzheitlicher geworden. Und der Autor mehr denn je zum mentalen Chronisten unserer Republik.