Bochum. Am Bochumer Schauspielhaus ist „Der Würgeengel“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Johan Simons inszeniert mit Theaterstar Sandra Hüller.
Rette sich, wer nicht mehr kann: In seinem garstigen Kammerspiel „Der Würgeengel“ (1962) beschreibt der spanische Filmregisseur Luis Buñuel eine illustre Gruppe von Wohlstandsbürgern in Schockstarre. Aus rätselhaften Gründen kann die abendliche Dinnerparty niemand mehr verlassen, obwohl alle Türen offenstehen. Am Bochumer Schauspielhaus bläst Intendant Johan Simons jetzt zur Wiederentdeckung dieses leicht vergessenen Meisterwerks des Surrealismus – und überträgt den schillernden Stoff behutsam in unsere problembeladene Dekade.
„Ich muss jetzt nach Hause. Hier wird die Sache langsam lächerlich.“ Sätze wie diese fallen in der Aufführung häufiger, sie werden hin und her gewendet und teils dutzendfach wiederholt. Fünf Schauspielerinnen und Schauspieler (bei Buñuel waren es 20) suchen nach einem Ausweg aus einer irrwitzigen Situation. Sie motzen und lamentieren, sie schweigen und starren ins Leere, manchmal stöhnen sie auch nur phlegmatisch in ihr Mikro. Der komplette Stillstand geht teilweise über Minuten so dahin, das muss man aushalten können.
Zwischendurch ein paar Minuten Dämmerschlaf
Die ersten ungeduldigen Zuschauer schauen bereits auf die Uhr, andere betrachten den Dämmerschlaf mit einigem Eifer. Denn natürlich sind auch die vielen Pausen wohlüberlegt inszeniert und erinnern nicht selten an ganz ähnlich gelagerte Theaterstücke wie Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ und Becketts „Glückliche Tage“.
Die Lage der Eingeschlossenen scheint ausweglos, nach Tagen machen sich Hunger und Durst breit, der Deckmantel der guten Manieren wird immer kürzer. Eine Art von Erlösung erleben die Figuren nur bei der Ankunft eines jungen Mädchens (gespielt von Mina Skrövset im Wechsel mit Tabea Sander), das zweimal erscheint und kuriose Kurzvorträge über Bienenstöcke und Perlboote hält. Das Mädchen scheint die einzige zu sein, die bei den traurigen Gestalten so etwas wie geistige Regung bewirken kann.
Da grüßt aus der Ferne natürlich Umweltaktivistin Greta Thunberg, und tatsächlich könnte man den Bochumer „Würgeengel“ als Kommentar auf den Klimawandel lesen, was aber etwas kurz gegriffen wäre. Denn die Schrecken unserer Zeit sind vielfältig, und auch die Menschen, die in ukrainischen U-Bahn-Tunneln Schutz vor russischen Raketen suchen, sind dort eingeschlossen, obwohl ihnen alle Türen offenstehen. Während Buñuel noch der Bourgeoisie in Frack und Abendkleid den Zerrspiegel vorhielt, ist das Drama in Johan Simons Interpretation längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen.
Theaterstar Sandra Hüller fügt sich leichtfüßig ins Ensemble ein
All dies ist richtig gut gespielt: Theaterstar Sandra Hüller fügt sich leichtfüßig ins Ensemble aus Bochumer und Leipziger Schauspielern mit ein (die Aufführung ist die erste Koproduktion beider Theater). Anrührend ist es, wie Marius Huth bebend in den Tod geht oder Anne Cathrin Buhtz um göttlichen Beistand ringt. Garniert mit „Psalmen und Popsongs“, so der Untertitel, bekommt der Abend gelegentlich sogar etwas Schwungvolles: Auf zwei Orgeln erklingen Stücke von Bach bis Portishead.
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Wie Hüller inbrünstig „Hero“ von Mariah Carey über die Bühne kräht, raubt dem Song auch den Rest seines gehörigen Schmalzes.
Frei von Schwächen ist die Aufführung nicht. So erschließt sich nur schwerlich, warum Simons die Handlung in ein Klassenzimmer mit viel zu kleinen Möbeln verlegt. Da hat Bühnenbild-Legende Johannes Schütz schon spannendere Räume gebaut. Auch die schwarz-weißen Videos im Hintergrund gewähren kaum neue Innenansichten oder überraschende Perspektiven.
Für einen Abend, der fordert statt gediegen unterhält, ist der Schlussapplaus üppig. Bravo-Rufe für die Darsteller und das Regieteam.
>>> „Der Würgeengel“: Karten und Termine <<<
Dauer: etwa 100 Minuten ohne Pause. Wieder am 18. März und 19. April. Karten: 0234 33 33 55 55.
Von Johan Simons sind in dieser Spielzeit noch zwei weitere Inszenierungen in Bochum zu sehen: Sein Wiener „Woyzeck“, für den er 2019 den Nestroy-Preis bekam, kommt am 15. April . Der mehrfach verschobene „Macbeth“ mit Jens Herzer in der Titelrolle ist für den 12. Mai angekündigt.