Essen. Wann weiß man, dass man Tenor werden will, Stargeiger, Dirigent. Das Buch „Voices“ lässt 70 Lieblinge der Klassik vom Anfang erzählen.
Die Frage, was einen antreibt, der es bis an die Spitze seines Fachs gebracht hat, können wir stellen vom US-Präsidenten bis zum Papst. Die nach dem Anfang ist vielleicht die noch reizvoller – nach dem zündenden Funken, manchmal blitzt es noch vor der ersten Schultüte, manchmal noch auf dem Schaukelpferd oder dem Schoß.
Ein eben erschienener Prachtband geht dieser Frage nach. Er hat sie 70 Menschen gestellt, die Weltkarriere gemacht haben auf der Bühne: Operndiven, Star-Tenöre, berühmte Pianisten, großen Schauspielerinnen, Dirigenten. Dass einem Dinge schon an der Wiege gesungen werden, bestätigen viele. Cecilia Bartolis bedeutendste Gesangslehrerin soll lebenslänglich ihre Mutter bleiben, Christian Thielemann lauscht schon als Kind den Orgelplatten seiner Eltern. Bei Rudolf Buchbinder ist in den beengten Verhältnissen „unserer winzigen Wohnung“ aber doch Raum für ein kleines Pianino, darüber: ein Beethoven-Bild. Dieser Bube, der sich einfach so mit einem begabten Onkel an die Tasten setzt, soll dann der jüngste Student werden, den die Wiener Musikhochschule je hatte: fünf Jahre alt.
„Voices“: ein Buch über die Anfänge großer Stars der Klassik
Klassik-Freunde lieben solchen Geschichten vom Anfang. Auch, weil sich hier das Einfache, oft Naive vermählt mit dem Star-Kult, der später auf dem Gipfel ihrer Kunst so viele umweht. Wir hätten Thomas Hengelbrock gern gesehen, wie er als Kind Verbotenes tat: ganz entschieden und gar nicht so selten die Schule schwänzte – um einfach nur Geige spielen zu können. Die Großmutter hatte den heute gefeierten Dirigenten mit ins Konzert genommen: Wilhelmshaven, erste Reihe Mitte. Ein Mozart-Violinkonzert, da war’s um ihn geschehen.
Berühmte Menschen erzählen: Jonas Kaufmann, Cecilia Bartoli, Christian Thielemann
Christine Cerletti und Thomas Voigt haben Große erzählen lassen, wie alles begann. Mancher natürlicher im Ton, bei anderen wurde aus vorangegangenen Gesprächen eine Ich-Erzählung. In gewisser Weise eint viele ein naiver Zauber. Elina Garanca sieht als Kind einer Probe zu. Als sie bei einer Schauspielerin den Wandel von zivil zu Kostüm sieht, ist das einfach nur Magie, „das will ich auch“. Die Lust an der Verkleidung (nicht zuletzt beim Fasching) elektrisiert als Kind ebenfalls Diana Damrau; dass man beim Operngesang so „komische Gesichter“ macht, befremdet sie eher. Bariton Bo Skovhus ist als junger Mann süchtig nach einer alten Rigoletto-Aufnahme, der er wieder und wieder lauscht – dann kauft er sich einen Kassettenrecorder, „um meine eigene Stimme zu hören“, übrigens erstmal eine „desillusionierende Entdeckung“. Und Jonas Kaufmann singt mit fünf im Kinderchor. Das Glücksgefühl, „im Klang zu stehen“, hat sein Leben entschieden.
Wer so ein Buch, das Feinkost für Fans ist, herausgibt, bedauert, viele nicht mehr hat fragen zu können. Da helfen sich Cerletti und Voigt mit edlen schwarz-weißen Doppelseiten und charmanten Zitaten. Manche, allen voran Wilhelm Furtwängler, zeigen auch, welches Glück dem Publikum die Not bescheren kann: „Meine Dirigentenkarriere ist ernsthafter Erwähnung nicht wert. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach, unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war, als Komponist zu Grunde zu gehen.“
Cerletti/Voigt: Voices, Großformat, 440 Fotografien, 70 Stimmen. 336 Seiten, 1,7 Kilogramm. VfmK-Verlag, 49€