Essen. Für die Klassik-Welt hob er die Elbphilharmonie aus der Taufe. Jetzt kommt Thomas Hengelbrock nach Essen. Wir sprachen vor dem Konzert mit ihm.

Die Augen der Klassikwelt ruhten 2017 auf Thomas Hengelbrock. Er „taufte“ als Dirigent die Elbphilharmonie. Am morgigen Samstag leitet er das große Weihnachtskonzert der Essener Philharmonie. Lars von der Gönna sprach mit dem Maestro über Alte Musik, Führungsstil und Weihnachten daheim.

Sie reisen mit Monteverdis Marienvesper zu den Anfängen unserer Musik, aber auch zu Ihrem langjährigen Spezialgebiet, der Alten Musik. Was bedeutet diese Reise?

Es ist ein großes Geschenk, dass es für uns Musiker diesen Monteverdi gibt. Er ist einer der großen Meister neben Mozart, Bach und Beethoven. Seine Marienvesper ist überwältigend und berührend, bis heute avantgardistisch.

Haben Sie persönliche Gänsehautmomente?

Es ist 16 Jahre her, dass ich die Marienvesper dirigiert habe. Jetzt, bei den Proben war es so schockierend grandios, dass ich regelrecht sprachlos war und einfach nur noch zugehört habe, was diese Musik erzählt. So sehr bewegt mich diese Musik.

Wovon erzählt sie?

Man spürt bei der Musik der Renaissance die spirituelle Verbindung, die die Menschen damals generell noch besaßen. Der Mensch fühlte sich noch ganz ohne jeden Zweifel eingespannt zwischen Oben und Unten. Die Musik will das von Gott in die Welt Gebrachte ausdrücken – in Schönheit und Vollkommenheit. Die Komponisten und Hörer wurden von Quellen gespeist, die mit der Aufklärung und ganz sicher dem Industrie-Zeitalter verloren gegangen sind.

Als Dirigent, der die Elbphilharmonie eröffnete, erlebte er einen enormen Druck

Sie haben als Dirigent die Elbphilharmonie eröffnet, die Augen der Welt blickten auf Sie…

Es waren extreme Wochen, der Druck war enorm, bei uns Musikern bis hin zum Fernsehregisseur. Ich finde, es ist uns dann aber gelungen - mit Konzentration auf das, worum es ging: die Musik

Was ist Thomas Hengelbrocks Weg, ein Orchester zu verführen, für sich zu gewinnen?

Das müssen Sie meine Musiker fragen (lacht). Also, weil ich selber ein lustvoller Mensch bin, versuche ich an den Musikanten im Orchestermusiker zu appellieren. Ich gebe viele Bilder, auch außermusikalische Impulse. Aber vor allem versuche ich diese großen Orchester einfach spielen zu lassen, nicht permanent zu knebeln. Jedes Konzert ist eine gemeinsame Reise, das ist mir wichtig: Wir definieren das Ziel, lassen uns aber überraschen, wo wir am Ende ankommen!

Ihre Dirigentengeneration ist anders, denkt man an die Generation der Großen, die bösartig und gefürchtet waren, denkt man etwa an Karl Böhms Proben. Ist das endgültig vorbei?

Ich hoffe, ja. Bei aller Größe ist das Ausdruck eines fatalen Gesellschaftsbildes, was da offenbar wird.

Was sollte man nie vor einem Orchester tun?

Ich würde einen Musiker nie vor anderen Kollegen bloßstellen.

Thomas Hengelbrock sucht privat die Stille - ohne Fernseher, ohne Musikberieselung

Sie führen ein klug reduziertes Leben, sehr medienarm.

Für mich war das immer schon notwendig. Aber im letzten Jahr habe ich so viel gearbeitet wie noch nie. Ich weiß: Ich werde künftig total reduzieren. Für mich, für die Familie, für die Musik. Man kann nur aus dem Vollen schöpfen, wenn in dieses Volle weiter eingespeist wird. Sonst wird man zu einem reproduzierenden Automaten, der Konfektionsware anbietet. Das möchte ich auf keinen Fall werden.

Sie nervt die Allgegenwart der musikalischen Berieselung. Möchten Sie ab und an dieser Gesellschaft den Stecker ziehen?

Ich tu’s einfach persönlich. Wenn in einem Hotel der Frühstücksraum bedudelt wird, nehme ich meinen Teller mit aufs Zimmer. In Restaurants mit Musik halte ich’s nicht aus. Ich schaue nicht fern, lasse mich nicht berieseln. Wissen Sie, wenn Sie Ihre Inspiration aus dem Inneren schöpfen, dann müssen Sie sie auch schützen vor dem Ansturm des Äußeren.

Ich lebe nicht wie ein Mönch, aber ab und zu entziehe ich mich dieser Welt einfach.

Ihre Mutter war Theologin, Ihr Vater Philosoph. Wie war Weihnachten bei den Hengelbrocks?

Die ersten Weihnachten waren sehr schön. Wir waren fünf Kinder, in sechs Jahren geboren. Das war sehr turbulent. Mein Vater hat dann sich dann sehr von der Katholischen Kirche abgewendet, er war jesuitisch erzogen worden. Später kam dann seine Aversion gegen alle kirchlichen Rituale, auch Weihnachten. Das hat natürlich Spannungen gebracht.

Können Sie sich an Ihr schönstes Weihnachtsgeschenk erinnern?

Ja, das war ein Kasperle-Theater mit vielen Puppen und einem Krokodil. Vermutlich der zündende Funke meiner bis heute ungebrochenen Liebe zum Theater!

Welches Weihnachtslied vermag Sie absolut anzurühren?

Ich steh‘ an Deiner Krippen hier.

----------------------------

Thomas Hengelbrock (59) wurde in Wilhelmshavengeboren. Er dirigiert bedeutende Orchester wie das Concertgebouworkest und ist noch bis 2019 Chef des Elbphilharmonie. Er ist mit der SchauspielerinJohanna Wokalek verheiratet.

2. Dezember, 19h, Philharmonie Essen: Monteverdi, Marienvesper. Restkarten (16/26€). 0201-8122200