Essen. Der Roman „Beifang“ beeindruckt mehr durch seine Vergangenheits-Erforschung als durch seinen müden Helden. Es geht um Folgen der Nachkriegszeit.

Beifang gibt es wirklich, aber selbst den meisten Ruhrgebiets-Kennern wird man noch erklären müssen, dass es sich dabei um einen Stadtteil von Selm handelt, im Nordostzipfel des Ruhrgebiets. Als man die Zeche Hermann, die wegen barbarischer Arbeitsbedingungen nur „Zeche Elend“ genannt wurde, 1926 stilllegte, brauchte Selm bis weit in die 50er-Jahre, um sich von diesem wirtschaftlich-sozialen Nackenschlag zu erholen.

Bis in diese Nachkriegszeit geht Martin Simons’ Roman zurück, der doppelsinnig nach dem Stadtteil benannt ist. Der Erzähler Frank, um die dreißig, ist ein durch die Gegenwart stolpernder, etwas willensschwacher Drehbuch- und Show-Script-Schreiber. Seine Eltern, die sich vorausschauend das Rentnerleben vereinfachen wollen, verkaufen das Haus, in dem Frank aufgewachsen ist und in dem sein Sohn, der abwechselnd bei ihm und seiner Ex lebt, die wirklich spannenden, abenteuerlichen Spiele hatte, die weder in München noch in Berlin möglich sind.

Das Revier war von Armut und Gewalt durchzogen

Das nun beginnende Stöbern in der Familiengeschichte ist auch eine Suche nach den Fundamenten des eigenen Ichs. Und es fördert eine Seite des Ruhrgebiets zutage, die in den polierten Kulissen der Industriekultur mitunter verloren zu gehen droht: Wie sehr das Revier von Armut und Gewalt durchzogen war, wie unzivilisiert es beim Arbeiten, Feiern und Erziehen zuging.

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Vulkan der Gewalt ist Großvater Winfried, der trotz seiner bitteren Armut als Hilfsarbeiter auf der Zeche zwölf Kinder zeugt, drei im Krieg und neun danach. Sie wurden in Zeitungspapier statt in Windeln gewickelt, trugen im Winter kurze Lederhosen und wohnten unfassbar auf 60 Quadratmetern. Franks Recherche fördert zutage, welche tiefen seelischen Wunden Armut, Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung bei den Geschwistern seines Vaters hinterließen, auch wenn die meisten sich nach außen tapfer, ja geradezu trotzig gaben.

Die Hauptfigur Frank ist eher Medium als Mensch

Neben der Tristesse eines Lebens, wie Frank es führt (der sich mit seiner Geliebten Marie nur zum Kuscheln trifft, bis er entdeckt, dass sie ihren Mann und seinen gehobenen Wohlstand nie verlassen würde), wirkt allerdings das mitunter auch anarchische, wilde Leben seiner Vorfahren wie ein trauriges Kontrastmittel. Frank wirkt bei alledem mehr wie ein Medium als ein Mensch. Für ihn interessiert man sich weit weniger als für das Biotop seiner Herkunft und dessen Geschichte, weshalb der Erzählfaden hier und dort ein wenig durchhängt. Aber wie sich die Erfahrung von Armut und Gewalt noch auf die Seelen der Kinder und Kindeskinder durchdrückt, das ist hier eindrucksvoll erzählt.