Essen. Alles begann mit einem Straßenhund und gipfelt in einer Chefinnen-Position. Merle Fahrholz ist die neue Intendantin des Essener Aalto-Theaters.
In den Schauspielhäusern von Oberhausen, von Essen, gar am Deutschen Bergbaumuseum Bochum schlägt in der Führungsetage 2022 die Stunde der Damen. Erstmals wird auch Essens Opernhaus von einer Frau geleitet. Es ist Merle Fahrholz (39). Weit hatte sie es ans Aalto-Theater nicht: Zuletzt war sie in Dortmund Chefdramaturgin der Oper. Lars von der Gönna traf sie zum Antritts-Interview.
Wer Merle heißt, tippe ich, kommt aus einer kunstsinnigen Familie. Vornamen-Hits Ihres Geburtsjahres waren ja Katrin, Anne und Nicole...
Tatsächlich ist der Name ein Bezug zum Ballett...
Nach der britischen Primaballerina Merle Park?
So ist es wohl: Meine Mutter war selbst Künstlerin. Wobei Merle noch mein normalster Vorname ist (lacht).
Verraten Sie uns einen exotischeren?
Einer ist Tjadina. Der kommt nur bei musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Zuge. Für mich persönlich ist das ein bisschen die Unterscheidung: Wo bin ich Theaterpraktikerin, wo Musikwissenschaftlerin?
Mit einem Straßenhund in „Carmen“ begann die Liebe zur Oper
Mit einem exotischen Namen allein liebt man nicht schon Opern. An welchen ersten Schritt erinnern Sie sich?
An einen sehr plastischen. Das war „Carmen“ – eine Freilichtaufführung im Amphitheater von Pula, im heutigen Kroatien. Ich war vielleicht sechs Jahre alt. Plötzlich lief ein Straßenhund auf die Bühne und der hat die Carmen bei der Festnahme durch die Militärs kläffend verteidigt. Die Vorstellung musste unterbrochen werden.
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Wie hat das auf Sie gewirkt?
In dem Alter ist man doch sehr stark auf die die Handlung fixiert. Mich hat die Veränderbarkeit der Geschichte beeindruckt: Es gibt einen Auslöser von außen und plötzlich ist nichts mehr wie geplant. Und dass eine so große Veranstaltung mit großem Orchester und Profi-Sängern von einem Straßenhund gestoppt werden kann.
Sicher haben Sie auch ein Instrument gespielt; gab es früh auch andere Kunstformen?
Mit vier habe ich mit Ballett angefangen, weil meine ältere Schwester schon tanzte. Im gleichen Alter mit der obligatorischen Blockflöte, später kamen Klavier, Kontrabass, Cello, Gesang dazu und jetzt im höheren Alter die Gambe.
Merle Fahrholz könnte theoretisch in den verschiedensten Sparten einspringen
Donnerwetter, gleich wer am Aalto ausfällt: Sie können in den verschiedensten Sparten einspringen….
Das würde ich niemandem raten (lacht)!
Eine Musikwissenschaftlerin landet nicht zwangsläufig im Opernbetrieb. Was förderte diesen Weg?
Die Leidenschaft fürs Musiktheater war früh da. Spätestens als Hospitantin an der Oper Frankfurt war mir klar, dass ich in der Oper arbeiten wollte: Achim Freyers Inszenierung von Händels „Ariodante“ hat mich stark berührt, das war ein Schlüsselmoment für meinen Weg.
Bislang waren Sie Dramaturgin. Dieser Beruf gilt als „Hirn“ im Körper des Theaters. Müssen Sie das als Generalistin an der Spitze ablegen?
Ich werde anfangs sicher nicht in der Dramaturgie tätig sein. Ein französischer Regisseur, mit dem ich zusammengearbeitet habe, hat zu mir gesagt: „Seit dieser Produktion, weiß ich, was ein Dramaturg ist: Er ist der Schäferhund!“ Damit meinte er nicht den deutschen Polizeihund. Er meinte einen, der die Herde zusammenhält. Dramaturgie ist ein zurückgezogener, beratender Beruf. Aber es gibt Eigenschaften, die ich mitnehmen will: Das Zuhören gehört dazu, das Einlassen auf andere Meinungen, die Bereitschaft zum Kompromiss. Erst recht die Eigenschaft, dass man nicht immer im Vordergrund zu stehen hat.
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Sie leiten künftig auf einem Posten, den Sie noch nie bekleidet haben, einen gewaltigen Tanker. Das Aalto ist ein großes Haus mit vielen Mitarbeitern. Was fällt Ihnen zu dem Begriff Verantwortung ein?
Im Theater haben alle die Verantwortung. Jeder einzelne von uns ist verantwortlich, dass das Theaterwesen, wie wir alle es lieben, auch die nächsten Jahrzehnte fortbesteht. Ganz gleich, auf welchem Posten man in einem Opernhaus ist: Wir alle haben die Verantwortung, dass der Besuch bei uns ein spannendes, sympathisches Erlebnis ist. Keiner von uns kann es sich leisten, diese Verantwortung nicht zu spüren, auch weil wir von Steuergeldern finanziert werden.
Die Menschen gehen nicht mehr selbstverständlich in die Oper
Oper ist heute kein Selbstläufer mehr. „Man“ geht nicht mehr automatisch. Wie begegnen Sie dem?
Das Publikum zu berühren, es durch gut erzählte Geschichten mitzureißen, steht ganz vorne. Wir müssen als Stadttheater aber zugleich der soziale Raum sein: Hier kann auch eine Familie hingehen, hier ist das gemeinsame Erleben einer „Zauberflöte“ ein Gemeinschaftserlebnis: Theater als Teil des Lebens! Das bekannte Repertoire will ich schützen, aber die Chance, wenig Bekanntes kennenzulernen, muss das Publikum bekommen.
Eine Fantasie-Frage zum Schluss. Wenn sie in jeder Stimmlage singen könnten, wer wären Sie auf der Opernbühne gern?
Cecilia Bartoli in Rossinis „Tancredi“ oder „Comte Ory“.
Nicht sein anrührendes Aschenputtel: „La Cenerentola“?
Nein, tatsächlich bin ich nicht diejenige, die an das ewig währende Happy End im Märchen so sehr glaubt.
>>> Zur Person: Der Weg der neuen Intendantin Merle Fahrholz <<<
Ehe Merle Fahrholz 2018 Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin der Oper Dortmund wurde, war sie als Dramaturgin für Musiktheater am Theater Heidelberg engagiert. Dort war Dortmunds Opernintendant Heribert Germeshausen vor seinem Ruf ins Revier Operndirektor.
Weitere Stationen der neuen Essener Opernchefin waren das Nationaltheater Mannheim und das Theater Biel Solothurn. Ins Land der Eidgenossen fällt auch Merle Fahrholz’ Doktorarbeit; in Zürich promovierte sie über den Komponisten Heinrich Marschner und die deutsche romantische Oper.