Gelsenkirchen. „Carmen“ zählt zu den beliebtesten Opern der Welt. In Gelsenkirchen gibt es seit Sonntag eine neue Deutung – und eine grandiose Orchesterleistung!

Ein steinerner Rundbau dreht uns den Rücken zu. Noch ist er die Zigarrenfabrik, in der die Titelheldin jobbt. Man muss kein Theaterprophet sein, um zu ahnen, dass Dieter Richters Bühne sich um 180 Grad drehen wird, da sich das Schicksal von Bizets „Carmen“ wendet. Die (neben Salome) berüchtigtste Femme fatale der Operngeschichte wird, anders als im Libretto, nicht vor der Stierkampf-Arena, sondern in deren Mitte ihr Leben lassen. Wird ihr Publikum noch einmal anfeuern und dann umkommen nach einem Leben voll von rastloser, ratloser Leidenschaft.

Rahel Thiels Regie-Idee – Sonntag war Premiere am Musiktheater im Revier – ist nicht neu, aber im Finale mit packender Härte erzählt. Ein Opfergang vor den Augen ihrer kleinen Welt: Selbst Carmens alte Clique, bisher ballonseidene Galgenvögel und leichte Mädchen, hat sich in Schale geworfen für den letzten Akt im Leben einer Frau, von der Thiel betont als Opfer erzählt.

„Carmen“ feierte Sonntag am Musiktheater im Revier Premiere

Selbst die berühmte Habanera singt Carmen schon als unterdrücktes Objekt des Militärs, Fast-Vergewaltigungen werden folgen. Thiel macht mehr als einen druckvollen Versuch, die Typen, die Bizets Oper und die Vorlage Prosper Mérimées eher eindimensional behaupten, psychologisch auszuleuchten. Sie streicht den Großteil der Dialoge; ein stummes Spiel handelt von Demütigung, von Abhängigkeit und von jener Allianz der Außenseiter, wie sie die Zigeunerin und den kleinen Sergeanten José verbindet. Vieles bleibt gut gedacht, aber mühevoll, zudem trocken umgesetzt.

Carmen, verrucht, verdorben und verletzlich zugleich, bleibt als Figur schlicht ein hermetisches Rätsel. Erst recht ihre theatralische Eskorte (ein ungebrochenes Mannsbild wie den Stierkämpfer Escamillo und das brave Schwiegertochter-Ideal Micaela) wird man vom Stereotyp kaum befreien können.

Jubel und Tränen beim Schlussapplaus. Die Neue Philharmonie Westfalen in brillanter Form

Besser, listiger, mit vielen fantasievollen Extras, geraten Thiel Tableaus und Bewegtes. allen voran die Schmuggler, sämtlich wundervoll von Anke Sieloff, Dongmin Lee, Tobias Glagau und Adam Temple-Smith gesungen und saftig gespielt. Der agile Opernchor hält in diesen Disziplinen sehr stattlich mit.

Carmen ist Lina Hoffmann, ein sehr höhensicherer Mezzo von lupenreiner Schönheit, doch kein erwartbarer Carmen-Typ. Die Partie stattet Hoffmann mit feinen Kammermusik-Nuancen aus. Eine große Leistung. Als der Schlussbeifall sie umtost, fließen die Tränen der Erleichterung. Piotr Prochera prunkt als Escamillo mit viriler Strahlkraft. Heejin Kim schenkt der Micaela Sopran-Dramatik übers Mädchenhafte hinaus. Beeindruckend Khanyiso Gwenxanes José: Es fügt sich für die Partie, dass er nicht der Typ Tenor ist, der heldisch tönt – ein Schmerzensmann, der lyrisch berührt.

In überragender Form aber ist die Neue Philharmonie Wesfalen mit Rasmus Baumann. So fiebrig gespannt, so filigran, so plastisch, so souverän im Aussingen (die Cello-Gruppe: einfach famos) und im Erfassen des malerischen Gestus der Musik. Ausgezeichnet!

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KARTEN UND TERMINE

Die nächsten „Carmen“-Aufführungen in Gelsenkirchens Musiktheater sind am 20./27.3 im April am 3./10./18./24.

Karten kosten von 15-45€. Tel. 0209-4097200. www.musiktheater-im-revier.de