Essen. Serie „Willkommen und Abschied“: Wolfram Eilenberger lebte als „Metropolen-Schreiber“ ein Jahr lang im Revier – und wunderte sich über manches.

Der Philosoph und Schriftsteller Wolfram Eilenberger (47) blickt er auf ein prägendes Jahr, in dem sich nicht nur seine Jobbezeichnung „Stadtschreiber“ verändert hat. Wilfried Pastors sprach mit dem scheidenden „Metropolen-Schreiber Ruhr“.

Was verbirgt sich hinter der Berufsbezeichnung „Stadtschreiber“?

Wolfram Eilenberger: Zunächst einmal ist es ja kein Beruf, sondern eine befristete Einladung – und in der Folge eine eingenommene Haltung. Ein Stadtschreiber ist jemand, der beobachtet und diese Beobachtungen in Worte kleide. Er kommt fremd in eine Region, wird selbst bereichert und gibt diese Selbstbereicherung an seine Leser weiter.

Aus welchem Blickwinkel haben Sie sich dem Ruhrgebiet genähert?

Es gab in der Philosophie immer eine Richtung, die sagt, Weisheit ist in den Kneipen und auf den Straßen, sie wird vom Volksmund ausgesprochen. Davon halte ich einerseits sehr viel, andererseits betrachte ich Philosophie als eine Kunst, Dinge, die alle schon kennen oder zu kennen meinen, neu zu sehen und neue Fragen aufzuwerfen. Mein Fokus für ein Buch, das im nächsten Frühjahr erscheinen wird, liegt im Blick Richtung Zukunft. Das Ruhrgebiet leidet unter dem Mangel, sich in falscher Nostalgie zu verfangen und deshalb nicht ausreichend zukunftsfroh zu sein.

Das Ruhrgebiet leidet an „Blindheit für die eigene Innovationskraft“

Woran machen Sie diese sehr kritische Wertung fest?

An der Art und Weise, wie sich das Ruhrgebiet selbst beschreibt. Es ist eine vergangenheitsbeschwerte Sicht, von der keiner glaubt, dass sie in die Zukunft tragen kann. Das Selbstverständnis ist gekennzeichnet von einer ausgeprägten Binnensolidarität, die von Mutlosigkeit oft nicht zu unterscheiden ist. Stichwort: „Woanders ist auch scheiße.“

Wo zeigen sich Defizite in der Selbstwahrnehmung?

Zum Beispiel in der Blindheit für die eigene Innovationskraft und Bildungsreichtum. Das Ruhrgebiet ist als universitärer Raum eine Weltmacht. Gerade im internationalen Vergleich geht völlig dennoch unter, wie stark die Unis in Bochum, Essen oder Dortmund in verschiedenen Forschungsbereichen sind. Das liegt vor allem daran, dass sich das Gebiet selbst diese Stärke nicht zu eigen machen will, weil die Betonung des Bildungselements nicht in die Narration des Ruhrgebietes passt.

Kann nicht der Stolz auf Erfolge der Vergangenheit Kraft für die Zukunft geben? In Gelsenkirchen erinnert jetzt ein blaues Lichtband an die große Zeit von Schalke 04.

Regionen, die sehr wenig haben, erkennt man daran, dass der Fußball ihr Selbstbild dominiert. Die Vorstellung, dass man eine Stadt oder Region über einen Fußballverein neu auf die Beine stellen kann, kann also als klares Symptom struktureller Hoffnungslosigkeit gelesen werden. Das ist eine Sackgasse, die perspektivisch immer enger wird.

„Der Fußball war in der Coronakrise das erste System, das weiter funktionierte“

Wie betrachten Sie den deutschen Profifußball aktuell?

Der Fußball war in der Coronakrise das erste System, das in der Lage war, erfolgreich weiter zu funktionieren, indem er Maßnahmen durchführte, die künftig wohl unser gesamtes Miteinander bestimmen: Quarantäne, Tests und Überwachung.

Aber die Fans bleiben außen vor.

Es geht auch ohne Fans – eine Erkenntnis, die in trauriger Weise wahr und klar ist. Geisterspiele als global vermarktetes TV-Produkt funktionieren hinreichend gut, denn dem 12-Jährigen australischen oder jordanischen Jungen ist es egal, ob im Hintergrund eines Bundesligaspiels wirklich 50.000 Leute fröhlich herumhopsen – zumal die Soundkulisse auch künstlich erzeugt werden kann, was in den Übertragungen ja mittlerweile auch geschieht.

Hat sich der Fußball schon so fortentwickelt, dass der regionale Fan nicht mehr gebraucht wird?

Der Hardcore-Fan nimmt das Spiel nur am Rande wahr, das kann jeder nachvollziehen, der einmal in Dortmund auf der Süd gestanden hat. Aus dem Fanblock ist die Sicht am schlechtesten, hier geht es in erster Linie um das Erlebnis mit den Gleichgesinnten. Viele der eher ekstatischen Fans erkennen also gerade, dass das, was sie am Fußballspiel lieben, paradox formuliert, fast gar nichts mit dem konkreten Spielgeschehen zu tun hat. Für die eher analytischen Anhänger vor dem Fernseher ist der Geisterfußball hingegen nicht schlechter als vorher. Sondern sogar ungestörter.

„In den vergangenen Monaten habe ich unglaubliche Naturschönheit kennengelernt.“

Für Traditionalisten eine erschreckende Erkenntnis.

Die traurigste Erkenntnis aus der Coronakrise ist für die Fans: Sie werden nicht einmal mehr als Wirtschaftsfaktor der Vereine gebraucht. Ich stelle mir eine weitere Frage: Wohin geht aktuell die soziale Energie, die beispielsweise rund um die Heimspiele von Schalke 04 oder Borussia Dortmund freigesetzt wurde? Wäre es vielleicht eine Riesenchance für die Städte, wenn diese Energie anderswo investiert würde?

Was nehmen Sie im Herzen mit?

Eine vollkommen andere Sicht des Ruhrgebietes, ein völlig neues Bild. In den vergangenen Monaten habe ich unglaubliche Naturschönheit kennengelernt und auch gesehen, dass die Region ökonomisch wie kulturell an vielen Stellen sehr viel „reicher“ und vielgestaltiger ist, als man von außen mutmaßt. Als Mensch aus Süddeutschland, der in Berlin lebt, ist mir vielfach ein menschliches Miteinander begegnet, das unmittelbarer und wohlwollender ist, als ich das bisher erlebt habe.

Das Interview ist ein gekürzter Auszug aus dem Jahrbuch der Brost-Stiftung.