Essen. Sibylle Bergs Roman „RCE #RemoteCodeExecution“ schreibt den neoliberalen Irrsinn der Welt fort – und lässt sie dann von Computer-Nerds retten.

Man kann dieses Buch eigentlich nicht in einem Artikel besprechen, denn nichts fehlt. Politik, Medien, Militär, Polizei und wir alle sind drin. Alles, ausnahmslos und noch viel mehr. Die Autorin bringt ein bisschen Überblick hinein: die Berg und wie sie die Welt sieht, wenn sie sich noch ein paar Jahre so neoliberal fehlentwickeln darf.

Es gibt immer weniger Menschen zwischen den Milliardären ganz oben und dem Rest der Nichtse ganz unten. Alle haben Wut und werden von oben überwacht dabei, von wo auch die immer neuen Anpassungen des Rechts an Wirtschaft und Politik erfolgen. Und von wo die Drohnen kommen, denn Firmen verlangen vor der Neueinstellung eine vollständige Überwachung.

Sibylle Berg blickt in die Zukunft

Übergewichtige haben keinen Zugang mehr zum Gesundheitswesen, Raucher werden auf offener Straße vom Mob zusammengeschlagen. Die Ohrstöpsel der Endgeräte, aus denen alle vollständig ihre Informationen beziehen, weil Fernseher längst abgeschafft sind, messen gleichzeitig die Gehirnströme mit und legen Archive an. Viele Arbeiten werden schon von Robotern erledigt, und willige Programmierer arbeiten unterbezahlt daran, dass sich alles weiter in diese Richtung verschiebt. Trojaner werden produziert und hoch gehandelt. Es ist viel los im Cyberspace, wo das Leben reguliert, reglementiert und relativiert wird.

Viele haben keine Lust mehr, weil jegliche alte Ordnung verloren gegangen ist. Sie vegetieren dahin, suizidlustig, aussichtslos. Der Grund: „Plötzlich konnten Menschen mit einer großen Aggressivität, wenig Moral und einem schlechten Stammbaum mehr Vermögen anhäufen als die alten Dynastien.“ Keiner ist mehr Teil von etwas Großem. Wir sind in einem fortgeschrittenen Jahrtausend, am gefühlten Ende der Welt. Tendenziell könnte der blessierte Planet nur noch durch die Entfernung der Menschen repariert werden.

Sybille Bergs GRM Brainfuck“ wird mit dem neuen Roman fortgesetzt

Herzlich willkommen: Wir sind im neuen Roman von Sibylle Berg. Der ist eine Fortsetzung der 640 Seiten „GRM“ von 2019. Damals hockten vier multinationale Kinder in einem unattraktiven Londoner Randgebiet, um sich an allen zu rächen und aus ihrer wütenden Grime-Musik die entsprechenden Rollenbilder zu destillieren. Wie in einem kalten Entzug hatten sie sich dazu freigemacht von ihren tragbaren Kleinstbildschirmen, die alles nur schlimmer gemacht hatten.

Im neuen Roman geht es um mehr, weil die Zeit fortgeschritten ist. Es geht um Remote Code Execution, also um einen Angriff aus der Ferne, bei dessen Ausführung der Angreifer Befehle auf sein Zielsystem ausführen kann. Im neuen Berg-Roman tun das fünf herangewachsene, tunnelbegabte und enttäuschte junge Menschen. Langsam bekommen sie so viele Informationen, dass sie ihre Gegner erkennen: „Geheimdienste, Staaten, Milliardenunternehmen, Rechtsradikale, Nationalisten, Spinner, Verschwörungstheoretiker und Mörder“. Ben, Kemal, Maggy, Rachel und Pjotr sitzen in einem Metallcontainer – „aufgeputscht von Nerdcore-Musik, Koffein und Wut“ – und haben Großes vor. Sie sind Soziopathen, die beim Rausgehen schwanken wie Laboraffen im Sonnenlicht. Aber weil sie das Netz beherrschen, können sie alles von innen regeln, denn: „Wenn ein mathematischer Verstand nicht durch moralische innere Instanzen blockiert war, konnte er Großes leisten.“

Sibylle Berg lässt Computer-Nerds die Welt retten

Nerds retten die Welt, so heißt das Ziel, weil sie noch eine Moral haben. Sie planen die Weltrevolution. Eine Dystopie ist das nicht, wie sie neuerdings neben Dave Eggers und Michel Houellebecq so viele schreiben. Es ist ein „Almanach des Irrsinns“, der uns mit jeden Tag noch mehr beängstigend bekannt vorkommt. „Oft verdichtet sich in Romanen die nahe Zukunft auf engem, A1-getrieben-durchforschbarem Raum“, heißt es selbstbewusst an einer Stelle, und wenig später ist die großartige Autorin überzeugt, „dass sich seherische Vorgänge in Romanen oft wenig später in der Realität wiederfanden“.

Ein großer Roman, der seine Spannung so sehr zu steigern vermag, dass er erst auf Seite 571 die neckische Kapitel-Überschrift platzieren kann: „Gleich geht es los.“

Sibylle Berg: RCE #RemoteCodeExecution. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 698 Seiten. 26 €