Michel Houellebecqs Romane werden als politisch-literarische Provokation gelesen. Vielleicht aber hat er jetzt einen Liebensroman geschrieben.
Am Ende steht eine Drohung: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt: für mich ist es Zeit aufzuhören“, schreibt Michel Houellebecq am Ende seines Nachworts. Sein letztes Wort, wirklich?
Nun, es wäre schade. Denn sein neues Werk „Vernichten“ mag nicht sein stärkstes sein, eines der zugänglichsten und unterhaltsamsten ist es allemal: Es gibt sogar Zeichnungen in dem dicken Buch. Gut, direkt die erste zeigt eine Guillotine, quasi zum Nachbauen, aber dennoch: Vermutlich hat sich Houellebecq überlegt, dass nichts langweiliger ist, als Skandale zu reproduzieren oder zu überbieten.
Ist auch kaum möglich, nachdem sein Anti-Islam-Roman „Unterwerfung“ just an dem Tag des Anschlags auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo erschien – nachdem er kurz zuvor auf dem Cover der Jahresausgabe geprangt hatte.
Anschläge, ein Wahlkampf und sehr viel Familie
Also: Keine Skandale, aber die bekannten Zutaten. Allerdings dezent portioniert. Als da wären: über Frankreichs Eliten lästern und die Mühen heterosexueller Erotik sachlich und damit komisch zugleich beschreiben. In seinem neuen Roman, der kurzfristig angekündigt, am Freitag in Frankreich und morgen in Deutschland erscheint, gibt er sich zugänglich und leicht lesbar und zieht seine Leserinnen und Leser in eine Geschichte, die anfangs so wirkt, als wolle er einen Dan-Brown-Thriller entwickeln: Es gibt eine geheimnisvolle Terrororganisation, die sehr mysteriöse Internetbotschaften veröffentlicht, später dann Anschläge verübt.
Zudem sind wir Leser in der Todeszone der Politik unterwegs: Über weite Strecken befinden wir uns während des Romans im Leben und im Kopf von Paul Raison.
Raison ist hochrangiger Berater des französischen Wirtschaftsministers, der im Buch wie in der realen Welt Bruno heißt und dessen Aktenfresserei und kluge Politik Raison immer wieder rühmt. Le Maire heißt er im realen Leben, Juge heißt er im Buch mit Nachnamen. Was ungefähr so viel heißt wie Richter oder Sachverständiger.
Er wäre, kurz gesagt, der ideale französische Staatspräsident, gerade jetzt im Jahre 2027, wo die zweite Amtszeit des Präsidenten endet – sagt Paul Raison, der Vernünftige, und also Houellebecq, der im Wahlkampf 2022 auf den des Jahres 2027 vorausblickt.
Fast nur zwischen den Zeilen schwingt so etwas wie Unzufriedenheit oder Trauer um das im Niedergang befindliche katholisch geprägte und männlich dominierte Abendland mit. Nicht nur, wenn sein Romanheld etwas maliziös beklagt, dass es nun auch mitten in Frankreich, im schönen Beaujolais-Städtchen, arabisch geprägte Viertel gibt.
Zwar geben Romanfiguren ja nicht zwingend die Einstellung des Autors wieder, aber gerade bei einem politisch gelesenen Autor wird man dessen, freundlich formuliert, diffus-provokante Haltung ständig mitdenken und den inneren politischen Korrektor bemühen.
Letztendlich ist es so, dass hier offenbar jemand den Tod der Vernunft (Raison, wie der Held Paul) beklagt und den Niedergang als einzig verlässliche Konstante begreift.
Jedoch: Trotz des sinistren Titels ist es ein weitgehend in sanfter Ironie, reichlich Anspielungen, und witzige Denkpointen getränktes Werk. Und trotz des Settings in der großen Politik und trotz der Thrillerelemente, die Elemente bleiben, zieht sich Paul Raison und der Roman ins Private zurück. Houellebecq erzählt vor allem eine Familien- und Liebesgeschichte, hinter der im Verlauf des Buches die Politthrillerelemente immer mehr zurücktreten.
So, als wollte er sagen: Seht her, ich hätte einen Politthriller schreiben können, aber es gibt wichtigeres – nämlich die Liebe und den Tod: Und – Surprise! – die Werte von Ehe und Familie. Paul und seine jüngeren Geschwister, eine etwas tumbe Katholikin und ein an seiner Ehe verzweifelnder Restaurateur historischer Wandteppiche, retten unter anderem ihren ins Wachkoma gefallenen Vater aus einer Pflegeeinrichtung und bringen ihn in seinen Landsitz. Genau diese illegale Aktion kostet Paul Raison den politischen Posten.
Eine Beziehung zwischen Vernunft und Besonnenheit
Zwar gelingen auch in der Familie längst nicht alle Beziehungen, ganz im Gegenteil, aber immerhin nähert sich Paul im Laufe der Zeit wieder seiner Frau an. Die heißt übrigens Prudence, angeblich nach einem Beatles-Titel, also Besonnenheit. Nun ja, eine Beziehung zwischen Vernunft und Besonnenheit...
Mit den quasi märchenhaft deutlichen Namen hat es durchaus seine Bewandtnis: „In meinen Büchern versteht man wie in Andersens Märchen sofort, wer die Bösen sind und wer die Guten“, sagte Houellebecq jüngst im Interview und fügte hinzu: „Mein größter Erfolg wäre es, wenn ich einmal gar keine Bösen mehr beschreiben würde.“
Tja, ausgerechnet in diesem Buch wimmelt es tatsächlich von zumindest gutwilligen Menschen. Klingt fast so, als wäre Houellebecq tatsächlich an ein gewisses Ende gelangt. Dass der alte Zyniker in diesem Werk am Ende sogar so etwas wie Zufriedenheit, gar Trost zwischen die Zeilen streut, ist ein weiteres Indiz. Und nach „Vernichten“ möchte man hinzufügen: Schade wär’s..
Leben und Werk, ein klein wenig komprimiert...
Michel Houellebecq, ob 1956 oder 1958 geals Michel Thomas geboren, da sind sich die Experten nicht ganz einig, gilt schon seit „Ausweitung der Kampfzone“ (1994) als Skandalautor. Dazu trug zuletzt sein Buch „Unterwerfung“ von 2015 bei, in dem er ein Frankreich unter muslimischer Herrschaft beschreibt.
Hier dürfte sein bekanntestes Werk, dank des Films von Oskar Roehler mit u.a. Moritz Bleibtreu und Martina Gedeck in den Hauptrollen, „Elementarteilchen“ von 1999 sein