Essen. Die 18- und 19-Jährigen wie Olivia Rodrigo oder Zoe Wees machen den Pop unserer Tage. Aber Abba hatte mit dem Comeback-Album den größten Erfolg.

Als Olivia Rodrigo letztens zu Hause war in ihrem Apartment in Los Feliz, einem hippen Viertel von Los Angeles, und sich den auf dem Boden verstreuten Inhalt ihres Koffers anschaute, dämmerten ihr zwei

Olivia Rodrigo
Olivia Rodrigo © Universal Music | Universal Music

Dinge. Erstens: Das Zeug muss dringend mal gewaschen werden. Zweitens: Wie geht waschen? Olivia ist 18, sie wohnt noch nicht lange allein, sondern lebte bis vor kurzem bei den Eltern (Grundschullehrerin und Familientherapeut) im ruhigen L.A.-Vorort Temecula. Also rief sie eine Freundin an und ließ sich das mit den vielen Rädchen und Knöpfen an ihrer Waschmaschine erklären.

Olivia Rodrigo, die im Kindergarten schon Gesangsunterricht nahm, im Schultheater und später in verschiedenen Disney-Serien mitspielte, hat gerade wenig Zeit für die banalen Aspekte des Erwachsenwerdens. Im Januar veröffentlichte die Singer/ Songwriterin ihre Debütsingle „Drivers Licence“, eine so traurige wie magnetische Folk-Pop-Ballade über eine gescheiterte Beziehung, und es dauerte nicht lange, bis der Song – ganz grob eine Mischung aus Taylor Swifts Herzschmerzliedern und No Doubts „Don’t Speak“ – überall auf der Welt ganz vorne stand.

Olivia Rodrigo traf sich mit Kamala Harris – und wirbt fürs Impfen

Später legte sie nach mit dem kantigeren „Good 4 U“ (hier trifft Pop-Punk der frühen 2000er Jahre auf Avril Lavigne) sowie dem ersten, feinen und vielseitigen Album „Sour“ – und nun haben es vielleicht noch nicht alle mitbekommen, aber Olivia Rodrigo als die spannendste neue Persönlichkeit des Popjahres zu bezeichnen, ist sicher keine Übertreibung.

Bei der kommenden Grammy-Verleihung ist der Teenager – der Vater ist philippinischer Herkunft, die Mutter hat unter anderem deutsche Wurzeln – sieben Mal nominiert (unter anderem für Album und Song des Jahres), das „Time“-Magazin kürze sie soeben zur „Entertainerin des Jahres“. Und fürs Impfen wirbt die junge Frau, die sich schon mit Vizepräsidentin Kamala Harris und dem US-Chefvirologen Anthony Fauci traf, auch noch. Chapeau.

Da waren auch noch Billie Eilish, Lorde, Arlo Parks, Celest und Little Slmz

Unbeabsichtigt hat Rodrigo aktuell sogar Billie Eilish, die übrigens seit dem 18. Dezember kein Teenager mehr ist, den Rang abgelaufen. Mit ihrem zweiten, verblüffend ruhigen, Album „Happier Than Ever“ erfreute Eilish zwar die Popkritik, traf aber den Nerv ihres Publikums nicht ganz so heftig wie erhofft.

Ähnliches gilt für die neuseeländische Pop-Elfe Lorde und ihr hübsch verdöst klingendes Spätsommerwerk „Solar Power“, während Olivia Rodrigos größtes Idol Taylor Swift ihre alten Platten gerade neu nach und nach neu einspielt, damit sie die Rechte an der Musik hält. Aus England, der Heimat von Adele, die mit dem Album „30“ zurückkehrte, erfreuten die sentimental-melancholischen Sängerinnen Arlo Parks (21) und Celeste (27) sowie Rapperin Little SImz (27).

Lea (Becker) wird häufiger gehört als Eilish, Swift, Dua Lipa und Rodrigo

Und auch im deutschsprachigen Raum dominieren in diesem Jahr die Damen. Lea (29), Nachname Becker

Zoe Wees
Zoe Wees © Universal | Jeff Hahn

und wenn man so will unsere Version von Swift, ist auf Spotify dank ihrer sensiblen Songs übers Lieben und Loslassen (das jüngste Album heißt „Fluss“) die am häufigsten angehörte Künstlerin überhaupt, vor Eilish, Swift, Dua Lipa und Rodrigo.

Stark war auch der Aufschlag der Hamburgerin Zoe Wees (auch erst 19), die es mit den Pop-Soul-Hits „Control“ und „Girls Like Us“ nicht nur bis in die US-Late-Shows schaffte, sondern auch so nonchalant wie nebenbei das – wichtige, wenn auch bisweilen überstrapaziert wirkende – Modewort der Musikbranche verkörpert: Diversität. 2022 wird es weiter gehen mit den frischen weiblichen Gesichtern – Rapperin Badmómzjay aus Brandenburg oder Sängerin Luna aus Vilshofen bei Passau (ja, beide 19) haben zum Beispiel die Gabe zu Großem.

Danger Dan, Nathan Evans und BTS

Und Danger Dan, sonst Rapper bei der Antilopen Gang, ist zwar mit 38 weder jung noch weiblich, hat aber mit dem wunderbaren und auch manchmal garstigen Piano-Pop-Album „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ sein Meisterstück gemacht.

Immer entscheidender bei der rasenden Berühmtwerdung neuer Künstlerinnen und Künstler ist die App TikTok, eine Art virtuelles Zweitwohnzimmer des Jungvolks. Hier werden die Trends erschnüffelt und entdeckt, hier nahm der 2021 zum echten Topstar aufgestiegene Rapper Lil Nas X seinen Anfang. Hier stürzte sich auch im Spätwinter plötzlich alles auf den schottischen Ex-Postboten Nathan Evans und seine Neubearbeitung des alten Seemannsliedes „Wellerman“, den in Deutschland offiziell erfolgreichsten Hit des Jahres.

Königsmacher TikTok – Coldplay und Ed Sheeran schwächeln

Auch das für viele Nichtteenager immer noch befremdlich anmutende Phänomen des koreanischen K-Pop wird entscheidend auf TikTok angefacht, die erfolgreichsten Vertreter des megakommerziellen Popgenres waren auch 2021 die glorreichen Sieben von der Boygroup BTS mit musikalischer Zuckerwatte wie „Dynamite“ und „Butter“, aber auch einem Duett mit der englischen Weltstarband Coldplay. Dass „My Universe“ indes einer der raren Lichtblicke auf dem schwachen Coldplay-Album „Music Of The Spheres“ ist, hätten trotzdem wohl nur die wenigsten gedacht.

Und auch, so komisch das klingt angesichts der Nummer-Eins-Hits „Bad Habits“ und „Shivers“, Ed Sheeran zählt zu den Enttäuschungen des Jahres. Man erwartet von dem Superstar, der ja zugegeben nach wie vor durch seine allumfassende Drolligkeit punktet, einfach mehr als so ein inspirationsarmes Album wie „Equals“, dessen beste Momente sich anhören wie B-Seiten des US-Kollegen The Weeknd – der übrigens wieder ein famoses Jahr hatte und zudem die beste Songzeile des Jahres mit „I saw you dancing in a crowded room/ You look so happy when I’m not with you“ aus dem auch ganz grundsätzlich tollen Song „Save Your Tears“.

Die Konzertbranche steht auf der Kippe – aber die Rolling Stones sind gefragt

Eine Bank bleibt Sheeran freilich bei den Konzertkartenverkäufen. Eine Zusatzstadionshow nach der anderen wurde anberaumt, und man möchte nicht nur dem Rothaarigen, sondern wirklich, wirklich allen Musikschaffenden wünschen, dass allerspätestens ab Frühling eine weitestgehend normale Bühnensaison möglich sein wird.

Denn ansonsten drehen nicht nur alle durch (wie bereits ansatzweise dieses Jahr erlebt bei Helge Schneider), sondern die längst am Abgrund stehende Veranstaltungsbranche dürfte final über die Klippe geschubst werden. Während hierzulande selbst die allermeisten Open-Air-Festivals 2021 gestrichen wurden, läuft das Geschäft in den USA übrigens längst wieder bestens. Jüngst verkauften die Rolling Stones, deren Schlagzeuger Charlie Watts nun nicht länger auf Erden trommelt, Tickets für umgerechnet 100 Millionen Dollar, auch Harry Styles, Green Day oder Guns N‘ Roses freuen sich über ein florierendes nordamerikanisches Konzertgeschäft.

Das neue Album der Red Hot Chili Peppers kommt erst, wenn eine Tour möglich ist

Die anhaltende Live-Malaise spannt auch bei neuer Musik zunehmend auf die Folter, das längst fertige neue Album der Red Hot Chili Peppers etwa wird wohl erst rauskommen, wenn die Band auch wieder global tourt, aber noch stehen die Daten Mitte 2022 ja. Vorfreuen kann man sich auch auf die Konzerte des römischen Quartetts Måneskin, das ganz altmodisch per Eurovision Song Contest groß rausgekommen ist und seitdem mit Stücken wie dem Siegerlied „Zitti e Buoni“ oder dem Cover von „Beggin‘“ unterstreicht, wie sexy und erfrischend Rock’n’Roll auch im Jahr 2021 sein kann.

Abbas „Voyage“ war ein Muss – den vieren droht wohl eher nicht die Verarmung

Doch die größte Geschichte war selbstverständlich das Comeback von Abba. Man wusste seit Jahren, dass es passiert, aber als es dann so weit war, fand man es halt doch ganz süß und irgendwie fast dazu angetan, einen mit dem Jahr als solchem zu versöhnen. „Voyage“ ist zwar kein so vorzügliches Album wie „30“ von Adele, der zweitdickste Fisch im Karpfenteich 2021, aber man kauft es halt trotzdem; es ist nicht nur in Deutschland mit weitem Abstand die kommerziell erfolgreichste Albumveröffentlichung des Jahres.

Und sollte dem Quartett dennoch das Geld knapp werden, steht auch Abba der derzeit lukrativste Schachzug von allen offen: Der Verkauf der Songrechte. Das ist logischerweise umso erklecklicher, je dicker der Songkatalog ist, den man da an die Musikmultiindustrie verhökert. Aber da selbst die sonst zumindest milde kapitalismuskritischen Künstler Neil Young und Bob Dylan die Rechte an ihrem Werk meistbietend verkauft haben, muss sich die Sache wirklich verdammt lohnen. Bruce Springsteen hat seinen Katalog soeben für 500 Millionen US-Dollar losgeschlagen, Abba dürfte ein solcher Deal zu Milliardären machen – falls sie es nicht längst schon sind.