Essen. Adele ist eine Balladenweltmeisterin. Aber sie kann auch anders. Auf ihrem neuen Album „30“ nimmt sie ihr Publikum sogar mit auf die Tanzfläche.
Um es gleich vorweg zu nehmen: „30“ ist überhaupt nicht das Adele-Album, das man nach der ersten Single hätte erwarten können. Denn auf „Easy On Me“ klingt Adele selbst für ihre Verhältnisse extrem phänotypisch, die Nummer ist ein melancholisches, ja trauriges, vom Piano und der Jahrhundertstimme der Künstlerin angetriebenes, zunehmend in den emotionalen Ausnahmezustand schwappendes Wehklagen über die nicht länger vorhandene Liebe zum Ex-Mann, gekoppelt an die Botschaft, es sich selbst vielleicht doch nicht gar so schrecklich schwer zu machen. Denn man hatte es ja versucht, und das Leben ist nicht nur das Leben, es geht halt auch irgendwie weiter. Muss ja. Aber wie es nach dem Gefühlsgigantismus von „Easy On Me“ weitergeht, das ist eine echte Überraschung.
„30“ erscheint am Freitag (19. November). Es ist das vierte Album der Londonerin. Ihr Debüt „19“ löste 2008 sogleich eine Weltkarriere aus, die sich drei Jahren später mit Adeles bisherigem Meisterwerk „21“ (mit „Someone Like You“ drauf) ins kaum Vorstellbare steigerte. Zusammen mit dem etwas zu polierten und auf die Erfüllung der Fan-Erwartungen getrimmten „25“ (2015) hat Adele 120 Millionen Alben verkauft. Sie gewann bislang 15 Grammys und auch einen Oscar (für den Bond-Song „Skyfall“). Adele ist aktuell unangefochten der größte Popmegastar von allen, größer als Ed Sheeran, größer als Taylor Swift, und wenn am Ende des Jahres die Verkaufszahlen weltweit addiert werden, wahrscheinlich sogar größer als Abba.
Adele spielt mit Harry und Meghan in einer Liga
Gerade lief in den USA das Adele-Special „One Night Only“, bestehend aus Adeles erstem Konzert seit fünf Jahren und einem Interview mit Oprah Winfrey in ebenjenem Rosengarten, in dem die Talkshow-Koryphäe zuletzt Harry und Meghan zum Enthüllungsgespräch begrüßte. Das sind so die Dimensionen bei Adele. Und auch die deutsche Dependance der Plattenfirma machte jüngst mal einen Abend Zoom-Konferenz-Pause und lud zum feierlichen Vorspielen von „30“ ungefähr ebenso viele Medienleute in die noch immer neue Berliner Firmenzentrale ein, um bei Häppchen und Cocktails, die so hießen wie Adele-Songs, dem neuen Werk zu lauschen.
Schöntrinken muss man sich „30“ indes nun wirklich nicht. Adele Adkins, 33, seit Ende 2018 getrennt und mittlerweile geschieden vom langjährigen Partner Simon Konecki, Mutter des gemeinsamen, neunjährigen Sohnes Angelo, ist ein richtig großer Wurf gelungen. Eben auch, weil sie nicht den ganzen Käse, den das Leben ihr in der jüngeren Vergangenheit angerührt hat, in eine selbstmitleidige, lamentierende Tränendrüsenpianopathosballade nach der anderen gepackt hat. Und weil Adele ihre geballte Enttäuschung, ihre Schuldgefühle, ihren Frust über diese zugrunde gegangene Liebe, der einfach die Luft entwichen ist wie einem Ballon, in einen Haufen rasanter, vielschichtiger, teilweise hoch origineller, oft temporeich tanzbarer und geradezu euphorischer „Mir-geht-es-zwar-gerade-beschissen-aber-ich-werde-es-euch-schon-zeigen-Songs verwandelt hat.
In „My Little Love“ singt Adele für ihren Sohn Angelo
Gut, in „My Little Love“, wie ungefähr die Hälfte der zwölf Songs geschrieben und produziert mit ihrem Stammpartner Greg Kurstin (andere Co-Autoren sind unter anderem Max Martin, Inflo und Tobias Jesso Jr., mit dem sie schon „When We Were Young“ verfasste), heult sie tatsächlich. Der Song, stilistisch Kerzenschein-Spätabend-Jazz, eigentlich leichtfüßig und dann doch wieder nicht, beinhaltet gesprochene Satz-Schnipsel von Adele und Angelo. Im Prinzip erklärt sie hier ihrem Jungen in sechseinhalb Minuten, wieso sie nicht mehr mit seinem Daddy in einem Haus lebt (Konecki wohnt jetzt in Beverly Hills direkt gegenüber). Adele, deren Eltern sich trennten, als sie ein Kleinkind war, übernimmt hier für das Scheitern der Beziehung die Verantwortung. Die Wunden bei Mutter und Kind, sie heilten nur langsam. Wer will und in der Lage ist, auch steinreichen und supererfolgreichen Menschen Empathie entgegenzubringen, kann das herzzerreißend finden.
Auf dem von Hip-Hop (Adele liebt die Musik von Kendrick Lamar) inspirierten, soulig-swingenden und so ganz unterschwellig Gott-hab-sie-selig Amy Winehouse aufleben lassenden „Cry Your Heart Out“, dem vielleicht fröhlichsten Liebeskummer-Song seit Jahrzehnten, gewinnt dann schon der Lebenstrotz die Oberhand. Durch „Oh My God“ (über einen One-Night-Stand, auch das kam vor in der jüngeren Vergangenheit) pumpen sogar richtige Beats, man will sich bewegen und fühlt sich an Beyoncés Hymne „Crazy In Love“ erinnert. Überhaupt findet, wer sucht, Referenzen en masse.
Erinnerungen werden wach an Lauryn Hill, George Michael und Sade
Der Neunziger-Jahre-R&B einer Lauryn Hill trifft im zum lauten Mitsingen gemachten „Can I Get It“ auf George Michaels „Faith“ und ein paar Brit-Pop-nahe Gitarren. „Woman Like Me“, wo sie dem Ex Selbstgefälligkeit vorwirft und, so kann man es zumindest deuten, dass er nicht genug um seine große Liebe gekämpft hat, kommt der Eleganz einer Sade recht nah, und „Love Is Just A Game“, eine schelmische und schamlos überschwängliche Retro-Hymne hätte auch von Judy Garland sein können – oder von Duffy, die vor anderthalb Jahrzehnten parallel mit Adele groß rauskam und in Vergessenheit geriet.
Doch selbst die sorglosesten und partyfröhlichsten Melodien können nicht verdecken, wie schlecht es Adele psychisch ging, als sie von Anfang 2019 bis Anfang 2020 diese Stücke schrieb – ohne Corona wäre „30“ schon vor einem Jahr rausgekommen. Bei Oprah erzählte sie, dass sie wochenlang fast ohne Unterbrechung im Bett blieb, depressiv und desillusioniert, von Ängsten und Selbstanklagen geschüttelt, nur noch für Angelo halbwegs funktionierend.
Adele hatte den Sport für sich entdeckt
Wie sie dann den Sport – und alsbald die innere Athletin – in sich entdeckte, immer öfter wandern ging, ohne Witz drei Mal täglich obsessiv trainierte und – ohne Diät, wie sie beteuert – über vierzig Kilo verlor. Und, das erfahren wir in der köstlich betitelten, hymnenhaften nächsten Single „I Drink Wine“, wie sie nach und nach unter den Trümmern der Trennung und inmitten tiefer Verzweiflung wiederfand, was sie verloren wähnte: sich selbst.
„30“, so sagte es Adele der englischen Vogue, ist die künstlerische Wiederaufbereitung eines Lebens, das mit 30 in seine Einzelteile zerfiel und langsam wieder zusammengefügt werden musste. „Ich will einfach nur geliebt werden und lieben in der reinsten Form“, schmettert sie in dem dramatisch zuspitzenden Power-Piano-Stück „To Be Loved“. Mit ihrem neuen Freund, dem Sportmanager und Spielerberater Rich Paul unternimmt sie diesbezüglich aktuell den nächsten Anlauf.