Essen. Billie Eilish, berühmt und einflussreich wie nur wenige, legt ihr zweites Album vor: „Happier Than Ever“ ist grandiose Unterhaltung mit Kick.
Bis zum 18. Dezember 2021, dem Tag ihres 20. Geburtstags, ist Billie Eilish immer noch ein Teenager. Und ein hochgradig widersprüchliches Wesen, wie aus den 16 Songs von „Happier Than Ever“ dann doch sehr deutlich herauszulesen ist. Man vergisst ja schon mal leicht, wie jung Eilish, die noch mehr oder weniger bei ihren Eltern im hippen Highland-Park-Viertel in Los Angeles lebt, tatsächlich nach wie vor ist.
Denn in den zwei, drei Jahren seit ihrem Debüt „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ hat die wohl neben Greta Thunberg bekannteste und einflussreichste Unter-20-Jährige der Welt mit ihren Songs den Popkosmos in Bewegung gesetzt wie keine andere, indem sie indirekt dafür sorgte, dass die Streamingdienste längst überquellen von tendenziell traurigen Teenagern, die in ihren Jugendzimmern zu ruhigen Kopfhörerbeats aus ihrem Leben erzählen. Billie Eilish steht aber längst für viel mehr als nur für ihre Musik – die sie auch auf der neuen Platte wieder komplett gemeinsam mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Finneas komponiert und aufgenommen hat. Billie Eilish ist eine echte Influencerin, unter den Kreativen vielleicht sogar die Mächtigste von allen.
Mit Gucci-Corsage auf dem Cover der „Vogue“
Nicht nur, dass sie in kurzer Zeit schon sieben Grammys gewonnen, die Charts beherrscht und den James-Bond-Song „No Time To Die“ gesungen hat (der auf „Happier Than Ever“ leider fehlt). Ihr Einfluss reicht über die Songs meilenweit hinaus. Wenn Billie Eilish über psychische Probleme spricht, dann fühlt sich ein Millionenpublikum verstanden. Und wenn sie sich, nach Jahren in verhüllenden und explizit antiaufreizenden Outfits plötzlich auf dem Cover der „Vogue“ mit blondierter Mähne und nur mit einer maßgeschneiderten Gucci-Corsage abbilden lässt, dann gibt es, vor allem im Netz, tagelang kein hitzigeres Gesprächsthema.
Die Diskussionen um ihre Kunst und um ihre Person sind an Eilish, wie sollten sie auch, nicht unbemerkt vorübergegangen. „Manche Menschen hassen, was ich trage, manche preisen es“, singt, nein sagt sie in dem beschwörenden, eindringlichen, fast wie ein langes Yoga-Mantra wirkenden Spoken-Word-Stück „Not My Responsibilty“. Und fragt ihrer Hörerinnen und Hörer, ob sie es lieber hätten, wenn sie schwiege, um zu dem klugen Schluss zu kommen, dass anderer Leute Ansichten über sie nicht in ihren Verantwortungsbereich fallen.
Billie Eilish Pirate Baird O’Connells Beschäftigung mit dem Popstar
Selbstreflexion, sprich: die Beschäftigung des Menschen Billie Eilish Pirate Baird O’Connell mit dem Popsuperstar Billie Eilish, ist das zentrale Thema auf „Happier Than Ever“. Das klingt öder als es ist. Wenn sie über ihre Unsicherheiten, Selbstzweifel und Ängste singt, über äußerliche Perfektion oder deren Fehlen, über Männer, die sich sexuell unentschuldbar gegenüber jungen Frauen verhalten, wie im klanglich minimalistischen, aber an Intensität maximalen „Your Power“, dann fühlt man – auch wenn man altersmäßig längst aus der jugendlichen Kernidentifikationsgruppe herausgewachsen ist – nichts außer Mitgefühl und Verbundenheit mit der sensiblen Eilish. Man möchte sie einfach mal kurz in den Arm nehmen.
Perfekt gelingt es den O’Connell-Geschwistern, durch die Wahl ihrer künstlerischen Mittel Nähe zu schaffen. In „Getting Older“, dem introspektiven ersten Song, ist Billies Singen eher ein Murmeln, während sie darüber sinniert, nicht nur mit Druck und Verantwortung irgendwie klarkommen zu müssen, sondern auch noch mit dem gelegentlichen Stalker an der elterlichen Haustür. Ja, man hört sie sogar atmen, und zwar schwer. Ohnehin fällt auf, wie zurückhaltend und leise das Album insgesamt geraten ist. Es zischt nicht so laut wie auf der ersten Platte, der Grundton klingt ein wenig gedimmt.
Einfluss von Sinatra und Peggy Lee
Dass sich Eilish, wie sie in einem Interview erzählte, vor allem von Crooner-Legenden wie Frank Sinatra oder Peggy Lee habe anregen lassen, wird etwa in den ersten, von Jazz beeinflussten, kerzenscheinballadesken anderthalb Minuten von „My Future“ deutlich; danach nimmt die Nummer, in der Billie bekundet, sich, auch wenn das Leben kräftezehrend sein kann, auf die Zukunft zu freuen, Fahrt auf.
So tanztauglich, bissig, düster dramatisch und vom Bass-Beat geleitet wie ihre großen Hits „Bury A Friend“ und „Bad Guy“ wird es allerdings nur gelegentlich. „Therefore I Am“ und „NDA“ kommen mit ihrem beschleunigten elektronischen Puls den früheren Songs am nächsten, auch „Overheated“ funktioniert mit seinem Techno-Touch in den Clubs.
Beschimpfung des Ex-Boyfriends und der neue Sehnsuchtsmensch
Was die Liebe betrifft, so positioniert sich Eilish, aller künstlerischen Frühreife zum Trotz, als tatsächlich typischer, weil immens wankelmütiger Teenager. Während sie, derzeit übrigens unliiert, dem Ex-Freund im eingängigen „Lost Cause“ hinterherschimpft, dass er aber mal so überhaupt nichts auf die Kette kriege, säuselt sie in „Halley’s Comet“ wieder auf diese Nachtclub-jazzaffine Art, dass der Sehnsuchtsmensch doch häufiger in ihren Träumen auftaucht als gedacht, was wohl damit zusammenhängen müsse, dass sie sich gerade nachhaltig verknalle.
Der Titelsong „Happier Than Ever“, als vorletztes Lied der Platte, greift dann die ganzen scheinbaren Kontraste und Unvereinbarkeiten, ja all die losen Enden im Plot des Billie-Eilish-Seins noch einmal auf – und führt sie zwar nicht zusammen, aber auf eine überwältigende und epische Weise vor. Erst hört man nur ihre (wirklich schöne und wandelbare) Stimme, diesmal zur Akustikgitarre und im Wisper-Modus über das eigene Glücklichsein singen. Dann explodiert die ganze Chose recht unvermittelt, entwickelt sich zum großen Drama, zur Abrechnung mit sich selbst, dem Ex-Boyfriend-Dödel und allen anderen, die sich angesprochen fühlen von so viel wunderbarer weiblicher Wut. In „Happier Than Ever“ kommt es zur finalen Kulmination ihres Kosmos. Einmal Eilish mit allem quasi. Wäre die zweite Hälfte des Songs ein Tarantino-Film, dann hätte niemand überlebt. So geht große Kunst.