Essen. Nathan Evans, der Shanty singende Postbote aus Schottland, genießt trotz mangelnder Seetüchtigkeit die Welle seines „Wellerman“-Erfolgs.
Bis vor ein paar Wochen war Nathan Evans ein netter Schotte, der mit 26 als Postbote arbeitet und selbstgesungene Videos im Netz hochlädt. Jetzt aber ist Nathan Evans der Junge, zu dessen Version des uralten Walfängerliedes „Wellerman“ beim Internet-Dienst TikTok gerade alle Welt steil geht. Stars wie Ronan Keating, Brian May oder Gary Barlow springen mit eigenen „Wellerman“-Versionen auf den Hype auf und die Shanty-Seebären von Santiano kündigen eine gemeinsame Version mit Evans an. Steffen Rüth plauderte per Video mit einem sehr gelassenen Nathan Evans über die rasante Entwicklung, die ihn auch in Deutschland an die Spitze der Single-Charts geführt hat.
Mr. Evans, wie läuft es?
Nathan Evans: Bombig! Eine Menge Arbeit gerade. Aber Superarbeit. Ich genieße das und freue mich darauf, was jeder neue Tag an coolen Überraschungen bringt.
Haben Sie auf diesen Erfolg von „Wellerman“ gehofft?
(lacht) Oh, nein, nein. Das ist hat sich plötzlich so entwickelt. Seit ich ein Junge war, wollte ich am liebsten immer nur Musik machen. Das ist jetzt alles total verrückt und verwirrend für mich. Aber es ist großartig!
Man kann sagen, Ihr „Wellerman“ ist innerhalb von ein, zwei Wochen zum Riesenhit fast überall auf der Welt geworden.
Ich weiß. Absolut irre.
Welche Verbindung haben Sie zu „Wellerman“ und Shantys?
Ach, ich poste ja schon länger irgendwelche Popvideos auf TikTok und auf Youtube, da seit 2011. Mein erster Beitrag war „Skinny Love“ von Bon Iver. Letzten Sommer hinterließ jemand auf TikTok einen Kommentar, ob ich denn nicht mal den Shanty-Song „Leave Hot Johnny“ singen könne. Ich ging mich dann erst einmal schlau machen über diese Nummer, nahm sie auf, lud sie hoch – und alle liebten es. Von nun an baten die Leute um immer mehr Songs. „Drunken Sailor“, „The Scotsman“ und eben „Wellerman“, das sind alles Wünsche der TikTok-Gemeinde gewesen. Bei „Wellerman“ waren alle dann komplett aus dem Häuschen. Keine Ahnung. Irre! Aber cool!
Kannten Sie den Song von früher, aus der Kindheit oder so?
Nein, ich habe erst letztes Jahr zum ersten Mal überhaupt von diesem Lied namens „Wellerman“ gehört. Mir war die Nummer vorher nicht geläufig.
Haben Sie eine Verbindung zum Meer, zu Walfängern, zu dieser ganzen Seemannskultur?
Nö, absolut null. In meinem Leben spielten diese Dinge keine Rolle. Bis zum vergangenen Sommer.
Bestimmt laden Sie die Fischer jetzt zur einen oder anderen Bootsfahrt ein?
Ich rechne stündlich damit. Aber ich weiß nicht, ob ich so eine Einladung annehmen würde. Ich glaube nicht. Ich werde schnell seekrank.
Woher wissen Sie das?
Als Kind war ich mal auf einer Fähre unterwegs und habe alles vollgekotzt. Keine schöne Erinnerung (lacht).
Was ist denn aus Ihrer Sicht das Besondere an Shantys? Warum lieben so viele Menschen gerade diese Art von Songs?
Ich denke, speziell im Moment hängen alle durch und fühlen sich traurig. Die Leute brauchen ein paar Sonnenstrahlen, irgendetwas Aufheiterndes und am besten noch Geschichten über Zusammenhalt und Freundschaft. „Wellerman“ bringt genau das Lächeln, das alle jetzt brauchen. Der Song ist leicht, alle können mitsingen, mitmachen, mitklatschen. Du kannst dazu tanzen, dein Instrument spielen, alles ist möglich. Das Ganze ist eine riesige, fröhliche Gemeinschaftserfahrung.
Haben Sie auch durchgehangen im Corona-Jahr?
Ich hatte zu wenig Zeit, um niedergeschlagen zu sein. Ich war entweder am Arbeiten oder am Musik machen. Musik hat mich noch aus jedem Loch im Leben wieder rausgeholt. Wenn ich schlecht drauf bin, nehme ich die Gitarre und singe. Die Pandemie war eine ideale Chance für mich, um viel zu üben und besser zu werden.
Glauben Sie, dass „Wellerman“ auch ohne Pandemie so schnell so erfolgreich wäre?
Definitiv nicht. Dass die Leute ständig zu Hause sind und sich irgendwie die Zeit vertreiben müssen, hat eine Riesenrolle gespielt.
Sie sagen, Sie wollten schon als Kind Musiker werden. Haben Sie in Bands gespielt?
Ich habe mit dem Singen angefangen, als ich sechs war. Und zwei Jahre später lernte ich, wie man Gitarre spielt. So mit neun und zehn habe ich im Schulchor gesungen, und seitdem habe ich immer Musik gemacht.
Was haben Sie denn mit sechs Jahren gesungen?
Meine Eltern und mein Opa ließen immer ihre Eltern- und Opamusik laufen. Elvis Presley vor allem. Ich habe Elvis geliebt. Dazu Bob Dylan, Van Morrison.
Wer sind heute Ihre Vorbilder?
Die Üblichen. Lewis Capaldi, Dermot Kennedy, Ed Sheeran natürlich.
Sogar Jimmy Fallon, Andrew Lloyd Webber und Elon Musik stimmen online in „Wellerman“ ein. Wie ist das denn?
Krass! Elon Musik hat was auf Twitter über Sea Shantys geschrieben, und immer, wenn Elon was twittert, geht das Thema steil. Andrew Lloyd Webber stieß auf TikTok dazu, und Brian May spielt Gitarre dazu.
Elon Musik ist der zweitreichste Mann der Welt. Haben Sie auch schon viel Geld mit Musik verdient?
Nein, nein. Bis jetzt nicht. Ist aber egal. Ich werde niemals einer der reichsten Menschen der Welt sein. Ich finde es ja schon Wahnsinn, dass Elon Musk überhaupt von mir weiß.
Ich dachte immer, TikTok sei nur was für Kinder und Teenager. Interessant, dass sich jetzt auch erwachsene Männer dort verlustieren.
Ja, aber das ändert sich gerade. Inzwischen ist dort alles möglich. Auch ein 26-jähriger Schotte mit einem alten Seemannslied. Das Witzige ist, dass ich echt viel Zeit auf der Seite verbracht habe, aber seit bei mir so viel los ist, komme ich kaum noch dazu. Ich lade nur noch meine Videos hoch.
Sind Sie ein guter Tänzer?
Nein. Das ist meine absolute Schwachstelle. Alle anderen tanzen um Längen besser zu „Wellerman“ als ich.
Sie waren bis vor kurzem Postbote. Fiel es Ihnen schwer, den soliden Beruf aufzugeben, um sich auf die Musik zu stürzen?
Nein, das musste ich nicht lange überlegen. Ich liebe Musik so sehr, dass ich diese Chance selbstverständlich ergreifen will. Musik zu meinem Vollzeitberuf zu machen, war ja immer mein Traum gewesen. Wäre ich bei der Post geblieben, hätte ich mich vieler Möglichkeiten wie Reisen zu TV-Auftritten beraubt. Und das wäre ja total blöd.
Sie haben Webdesign studiert. Das ist ja etwas anderes als Briefträger. Wie kam es zum Berufswechsel?
Nun, ich hatte versucht, einen Job als Webdesigner zu bekommen. Aber ich habe einfach keinen bekommen. Ich musste mich also umorientieren. Bevor ich Postbote wurde, habe ich auf Baustellen mit Metall und Stahl gearbeitet. Das war wirklich harte körperliche Arbeit
Ganz schön viele Berufszweige für einen Mittzwanziger.
Ich weiß. Ich denke, bei dem jetzigen Job werde ich es belassen. Einen besseren finde ich bestimmt nicht.
Was machen Sie sonst so?
Die meiste Zeit beschäftige ich mich mit Musik. Momentan versuche ich, eigene Songs zu schreiben. Ansonsten mag ich Computerspiele, vor allem FIFA.
Spielen Sie Fußball auch in echt?
Habe ich früher gemacht. Naja, was heißt früher. Als es halt noch erlaubt war. Also bis vor einem Jahr ungefähr. Ich bin echt gerne draußen.
Wie ist Ihr Heimatort Airdrie so?
Klein. Aber es gehört irgendwie noch zu Glasgow. Also habe ich beides, Großstadt und Kaff. Weiß gar nicht, wie groß Airdrie ist. Richtig groß jedenfalls nicht.
Haben Sie es schon zur lokalen Berühmtheit gebracht?
(lacht) Total. In jedem Laden und auch auf der Straße sprechen mich die Leute an. Ganz unterschiedliche Leute übrigens, von Kindern bis zu Alten.
Merken Sie, dass Sie sich verändern? Mehr zum Popstar werden?
Überhaupt gar nicht. Ich bin ein bescheidener, unkomplizierter Bursche. Ich bleibe entspannt und lebe mein Leben weiter wie bisher. So viel anders ist es auch gar nicht: Ich sitze die meiste Zeit des Tages am Rechner und lade Musik hoch.
Bei „Wellerman“ wird es nicht bleiben. Stimmt es, dass Sie gerade an einer Shanty-EP arbeiten?
Der Plan hat sich gerade geändert. Ich habe einen Plattenvertrag unterschrieben und werde in den kommenden Monaten zwei Singles und später im Jahr hoffentlich ein Album rausbringen.
Mit Shantys?
Auch mit Shantys, aber nicht nur. Ich will musikalisch offenbleiben und ein bisschen was von allem auf meinem Album haben – Shantys, Coversongs und eigene Stücke. Damit die Leute meine Facetten kennenlernen. Ich spiele Gitarre und Piano und schreibe auch eigene Songs. Mal gucken, was mir so einfällt.
Nathan, wir haben anfangs über den positiven Einfluss von Corona auf Ihre Karriere gesprochen. Aber ist es nicht auch irgendwie Mist, dass Sie jetzt daheim auf Zoom hängst, anstatt – wie früher üblich – heute in Barcelona, morgen in Berlin und übermorgen in Boston sein zu können?
Ja, da haben Sie recht. Ohne Pandemie wäre der Spaß- und Abenteueraspekt in meinem Leben gerade noch höher. Aber meine Zeit zu reisen und zu touren wird schon noch kommen. Alle Orte, an die ich gerne möchte, sind ja noch ein bisschen länger da.