Essen. . Im Jahr vor seinem Tod hat der krebskranke Künstler einen Rückblick auf sein bewegtes Leben gehalten. Das Buch „Ich weiß, ich war’s“, herausgegeben von seiner Witwe Aino Laberenz, enthält auf Band diktierte Memoiren, die bis zur Kindheit in Oberhausen zurückreichen.

Christoph Schlingensief war eine Wunderkerze, die von zwei Enden her brannte. Ein Gesamtkunstwerk gewordener Hohn auf alles, was Energiesparen heißt. Dass es Lungenkrebs war, der ihn für alle Zeiten stoppte, mutet wie ein böser Zufall an.

Die Vorstellung aber, wie ein 80-jähriger Christoph Schlingensief, umtanzt von Enkeln und Kleinkindern seines Operndorfs in Burkina Faso, Rückschau hält auf sein Leben, hätte etwas von einem Wunder. Ein Wunder, auf das er selbst bis kurz vor seinem Tod im August 2010 immer mal wieder gehofft hat, bei allem Mut, bei aller Wut und Gedankenkühnheit, mit der er dem Tod nach der ersten Diagnose zwei Jahre lang ins Gesicht geblickt hat.

Am Ende wollte er noch in zehn Tagen einen Abschiedsfilm drehen, über einen schwerkranken Regisseur, der dem Tod entgegengeht und noch ein großes Happening filmen will, die Ruhrtriennale sollte das produzieren. Ideen für Szenen gab es auch schon, sie hießen „Er hangelt sich an früheren Aktionen ab, die keinen mehr interessieren“, „Wo denn begraben? Paris oder Berlin? Oder Oberhausen?“ oder „Wer soll nicht zur Beerdigung kommen?“

Eine Art Schlingensief-Memoiren

All das ist nachzulesen in dem heute erscheinenden Band „Ich weiß, ich war’s“ – eine Art Schlingensief-Memoiren, die er in den letzten Monaten auf Band diktiert hat, ein Verfahren, in dem auch schon sein Krebstagebuch-Bestseller „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ entstand. Den neuen Band hat Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz zusammengestellt, mit deren Heirat diese kreuz und quer streifenden Erinnerungen beginnen – ein Jahr vor seinem Tod, als sie sich nicht vom Krankenbett wegekeln ließ, wie es der Krebspatient Schlingensief versuchte.

Entdeckung der Doppelbelichtung

Von Hölzchen aufs Stöckchen geht es auch zurück in die späten 60er-Jahre, als Schlingensiefs Vater, der in Oberhausen die Industrie-Apotheke hatte, eine Filmkamera kaufte und dank einer Doppelbelichtung dem kleinen Christoph und seiner Mutter am Strand plötzlich Menschen über die Bäuche liefen. Ja, Anekdoten bietet dieser Band, der von seinen Abschweifungen lebt, viele. Wie Schlingensief sich, sturztrunken und mit heruntergezogener Hose auf dem Kopierer um seinen Job als Aufnahmeleiter bei der „Lindenstraße“ brachte. Was er in drei Jahren als Assistent beim Mülheimer Experimentalfilmer Werner Nekes lernte.

Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief ist tot. In dieser Fotostrecke dokumentieren wir sein Leben.
Christoph Schlingensief ist tot. In dieser Fotostrecke dokumentieren wir sein Leben. © ddp
Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren. In München studierte er Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte.
Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren. In München studierte er Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte.
Zum Film kommt Schlingensief Anfang der 80er Jahre als Assistent des Experimentalfilmers Prof. Werner Nekes.
Zum Film kommt Schlingensief Anfang der 80er Jahre als Assistent des Experimentalfilmers Prof. Werner Nekes. © ddp
Sein eigener erster Langfilm wird 1987 mit dem Titel
Sein eigener erster Langfilm wird 1987 mit dem Titel "Tunguska - Die Kisten sind da" veröffentlicht.
Bekannt wird er jedoch erst zwischen 1989 und 1992, weil seine Deutschlandtriologie für Diskussionen sorgt.
Bekannt wird er jedoch erst zwischen 1989 und 1992, weil seine Deutschlandtriologie für Diskussionen sorgt. © WAZ
Die Triologie besteht aus den Filmen
Die Triologie besteht aus den Filmen "100 Jahre Adolf Hitler - Die letzten Stunden im Führerbunker", "Das Deutsche Kettensägenmassaker" und "Terror 2000 - Intensivstation Deutschland".
1998 folgt sein Theaterdebüt mit dem Titel:
1998 folgt sein Theaterdebüt mit dem Titel: "100 Jahre CDU - Spiel ohne Grenzen". Im gleichen Jahr gründet er auch die Partei "Chance 2000".
2007 bekommt Christoph Schlingensief den Ruhrpreis der Stadt Mülheim, hier zu sehen mit dem Kulturausschuss und dem Kulturdezernenten. Zuvor versucht er sich als TV-Moderator der medienkritischen Sendungen
2007 bekommt Christoph Schlingensief den Ruhrpreis der Stadt Mülheim, hier zu sehen mit dem Kulturausschuss und dem Kulturdezernenten. Zuvor versucht er sich als TV-Moderator der medienkritischen Sendungen "Talk 2000" und "U 3000". © NRZ
Im Jahr 2000 sorgte Schlingensief vor allem in Österreich für Diskussionen: Dort stellte er Container vor die Staatsoper. Die Idee stammte aus der Fernsehshow
Im Jahr 2000 sorgte Schlingensief vor allem in Österreich für Diskussionen: Dort stellte er Container vor die Staatsoper. Die Idee stammte aus der Fernsehshow "Big Brother", nur das Schlingensief Asylbewerber in dem Container wohnen ließ. Das Ganze sorgte über Wochen für politische Diskussionen. © ddp
Seine erste Oper inszeniert Schlingensief 2004 im Rahmen der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. Zwei Jahre später verabschiedet er sich für immer vom Theater, um sich auf seine Filme zu konzentrieren.
Seine erste Oper inszeniert Schlingensief 2004 im Rahmen der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. Zwei Jahre später verabschiedet er sich für immer vom Theater, um sich auf seine Filme zu konzentrieren. © ddp
Bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin 2009 ist Christoph Schlingensief eines der Jury-Mitglieder.
Bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin 2009 ist Christoph Schlingensief eines der Jury-Mitglieder. © ddp
Mit der Zusage Schlingensiefs als Jury-Mitglied bei der Berlinale 2009 hatte zunächst niemand gerechnet, da 2008 Lungenkrebs bei ihm diagnostiziert wurde.
Mit der Zusage Schlingensiefs als Jury-Mitglied bei der Berlinale 2009 hatte zunächst niemand gerechnet, da 2008 Lungenkrebs bei ihm diagnostiziert wurde. © AP
Zusammen mit Tilda Swinton, der Präsidentin der internationalen Jury der Berlinale, gibt Jury-Mitglied Christoph Schlingensief in Berlin die Eröffnungs-Pressekonferenz der Berlinale 2009.
Zusammen mit Tilda Swinton, der Präsidentin der internationalen Jury der Berlinale, gibt Jury-Mitglied Christoph Schlingensief in Berlin die Eröffnungs-Pressekonferenz der Berlinale 2009. © AP
Trotz der Diagnose gibt sich Schlingensief enspannt mit Kollegin Tilda Swinton, vielleicht...
Trotz der Diagnose gibt sich Schlingensief enspannt mit Kollegin Tilda Swinton, vielleicht... © ddp
...auch weil er sich durch seine Lebensgefährtin Aino Laberenz bestärkt fühlt:
...auch weil er sich durch seine Lebensgefährtin Aino Laberenz bestärkt fühlt: "Sie hat mir sehr extrem geholfen in dieser ganzen Zeit. Ohne sie wäre ich da nicht so durchgekommen." © ddp
Das Paar hält zusammen: Schlingensiefs mittlerweile Verlobte Aino Laberenz begleitet den Regisseur zur Berlinale 2009. Im November 2009 hat sich das Paar das Ja-Wort gegeben.
Das Paar hält zusammen: Schlingensiefs mittlerweile Verlobte Aino Laberenz begleitet den Regisseur zur Berlinale 2009. Im November 2009 hat sich das Paar das Ja-Wort gegeben. © ddp
Platztausch: Schlingensief überreicht dieses Mal einen Preis, anstatt ihn zu bekommen. Hier bei der Berlinale 2009. Die österreichische Schauspielerin Birgit Minichmayr bekommt den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in dem Film
Platztausch: Schlingensief überreicht dieses Mal einen Preis, anstatt ihn zu bekommen. Hier bei der Berlinale 2009. Die österreichische Schauspielerin Birgit Minichmayr bekommt den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in dem Film "Alle Anderen". © ddp
Im März 2010 erhielt Schlingensief noch den Helmut-Käutner-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Juli sagte er eine für die Ruhrtriennale geplante Produktion „S.M.A.S.H. - In Hilfe ersticken
Im März 2010 erhielt Schlingensief noch den Helmut-Käutner-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Juli sagte er eine für die Ruhrtriennale geplante Produktion „S.M.A.S.H. - In Hilfe ersticken" ab. Er sehe sich nicht in der Lage, die Arbeit bis zur im August geplanten Premiere fertigzustellen. Nun erlag er im Alter von 49 Jahren seinem Krebsleiden. © ddp
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Wie er Wim Wenders einmal in Venedig um Hilfe bei der Bewerbung an der Filmhochschule bat – und dabei fast umgefallen wäre, weil Isabella Rosselini dabei war. Oder wie sich Schlingensief nach seinem Debakel mit dem Film „Menu total“ 1986 bei der Berlinale Knall auf Fall in Tilda Swinton verliebte und die beiden daraufhin weinend und lachend und händchenhaltend durch das schneekalte Berlin gelaufen sind. Und krachend komische Szenen vom Wagner-Familienbetrieb in Bayreuth, wo Schlingensief 2004 den „Parsifal“ inszeniert.

Schon im Schulaufsatz war er Regisseur

Wer aber Schlingensief war? Oder was? Er wurde der Filmregisseur, als den er sich schon 1975 in einem Schulaufsatz beschrieb. Und dann ließ er sich ständig weiterlocken, von den Möglichkeiten, die sich auftaten, am Theater, im Fernsehen. Seine Kunst wurde immer vergänglicher, er strebte vor allem nach „Transformation“, nach Veränderung, wie seine Zentralbegriffe lauteten. Schlingensief wurde einer, der unter den immer neuen Umständen, denen er sich aussetzte, „an sich selbst lernte“. So geriet auch sein Operndorf in Afrika von einem schrillen Einfall zu einem immer vernünftigeren, höchst sinnvollen Projekt.

„Das Glück ist so eine Nanosekunde“

Am Ende hatte er „gar keine Lust mehr, die Kriege von früher zu führen“ und Frieden gemacht mit den vielen Schlingensiefs, die er war: „Geht denn das, sich selbst treu bleiben? Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte. Weil ich gar nicht wusste, wer ich mal sein könnte. Wer wollte ich sein, um wirklich glücklich sein zu können, und weshalb bin ich der nicht geworden? Wahrscheinlich wohl, weil ich gar nicht wusste, wie man glücklich wird. Das Glück ist ja so eine Nanosekunde. Weil ich denke, dass die Menschen, die sich immer so anstrengen, Ordnungen zu schaffen, in Wirklichkeit nur auf der Suche nach einem Plätzchen sind, an dem sie in Ruhe leben können. Aber das klappt hinten und vorne nicht, weil die Unwägbarkeit des Lebens eben auch die Qualität des Lebens ist.“