Bochum. Das hat es so noch nicht gegeben: In Harold Pinters „Asche zu Asche“ wird das Publikum in den Kammerspielen Bochum zum Teil der Inszenierung.
Diese Premiere geriet zu einem Experiment: Bei Harold Pinters „Asche zu Asche“ wurde das Publikum in den Kammerspielen in Bochum zu einem Teil der Inszenierung.
Das hat es so noch nicht gegeben. Der komplette Zuschauerblock der „Kammer“, immerhin 400 Sitzplätze, bleibt für die Aufführungen frei. Stattdessen sitzt das Publikum - 50 Gäste pro Vorstellung sind erlaubt -mitten auf der Bühne.
Theater Bochum wagt das Experiment
Von Theaterangestellten geleitet und mit einem Fluchtplan für den Notfall versehen, betreten die Zuschauer die Arena über den sonst nur für Mitarbeiter zugänglichen Backstage-Bereich.
Das Bühnenbild (Nadja Sofie Eller) besteht aus einigen Dutzend Sitzgelegenheiten, vom Rattan-Schaukelstuhl bis zum 70er-Jahre-Plastikstuhl; dazu kommen eine spiegelnde Bodenfläche und ein weißer, leuchtender Plafond, der sich während des Spiels bedrohlich auf die Anwesenden absenkt. „Asche zu Asche“ wird jeweils als Doppel-Vorstellung gezeigt, nach einer Stunde verlassen die ersten 50 Besucher die Bühne, die nächste Partie rückt nach, und die Aufführung beginnt von Neuem.
Gespielt wird in Direktkontakt mit dem Publikum
Die Zuschauer nehmen Platz, wie und wo sie möchten, die Schauspieler befinden sich mitten unter ihnen. Elsie de Brauw und Guy Clement spielen als Rebecca und Devlin das Pinter-Drama also in Direktkontakt mit dem Publikum. Sie wandeln zwischen den Stühlen und entwickeln dabei die Story. Man folgt ihnen mit Blicken oder dreht sich zur Seite oder nach hinten, je nachdem, wo sich die Akteure gerade befinden.
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Das ist ein spannender Ansatz, so unmittelbar erlebt man Theater selten. Es ist aber auch eine Herausforderung. Die distanzierte Zuschauerrolle wird aufgehoben, die Schauspieler müssen ohne den sonst üblichen Abstand zwischen Bühne und Saal auskommen.
Im Zickzack durch das gemeinsame Leben
Für Regisseur Koen Tachelet entspricht dieses Setting dem von Pinter vorgegebenen Stoff. „Asche zu Asche“ wirkt naturalistisch, steckt aber voller absurder und abgründiger Momente. Eigentlich geht es bloß um das Gespräch einer Frau und eines Mannes. Devlin und Rebecca reden sich im Zickzack durch ihre gemeinsame und geteilte Vergangenheit und Gegenwart. Gefühle, Erinnerungen, der Krieg, ein Kind, das auf einem Bahnsteig verloren ging ... was ist Wahrheit, was Einbildung?
Souverän in der Schwebe gehalten
Pinter hält das souverän in der Schwebe, und so sind Macht und Sprache, Erinnern und Vergessen und das rücksichtslose Leben der Vergangenheit in der Gegenwart die eigentlichen Themen von „Asche und Asche“. Anklänge an den Holocaust drängen nicht nur unterschwellig hervor.
De Brauw und Clement, beide gut verständlich, mit leicht niederländischem Akzent, spielen die problematische Mann-Frau-Beziehung kunstvoll und realistisch zugleich aus. Pinter schreibt eine „Wohnzimmeratmosphäre“ vor; mithin ein intimes Gespräch zwischen zwei Partnern.
Private Zweisamkeit ist aufgehoben
Dass diese private Zweisamkeit auf einer vom Publikum dicht besetzten Bühne nicht aufgeht, dürfte einleuchten. Und doch sind gerade deswegen Schauspieler und Publikum in dieser Inszenierung des Schauspielhauses Bochum besonders intim beieinander.
Man ist nah aneinander dran
Man kann das Parfüm der Darstellerin riechen, jede Gesichtsregung wie mit der Lupe vergrößert wahrnehmen. Umgekehrt entfaltet jedes Rascheln, etwa eines Mantel, eine ungeahnte Wirkung; und wenn versehentlich einem Zuschauer der Regenschirm hinfällt, scheint das Spiel der Illusionen sekundenkurz aus dem Lot.
Zwei hervorragende Darsteller
Durch die ungeklärte Bühnensituation wird aber das Ungefähre, das Unsichere, auch Bedrohliche der im Stück abgetippten Themen noch gesteigert. Es ist ein intensiver, stellenweise erschütternder Theaterabend. Zumal wenn man so ausgezeichnete Darsteller erleben darf, wie Elsie de Brauw und Guy Clement es sind.
Experiment gelungen.
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