Duisburg. Über die Wunden des Ruhrgebiets, die stärkende Kraft von Märchen und Theater, jenseits einer weichgespülten Disney-Realität: eine Begegnung mit Maria Neumann.

Das Ruhrgebiet – ein Ort zum Bleiben? Es sind ja gerade die „unwirtlichen“ Orte, die Schauspielerin Maria Neumann seit 30 Jahren in ihren Bann geschlagen haben – karge, weite Industriebrachen, Autobahnen, Bahnhöfe. Orte, die „der Realität sehr nah“ sind, denn: „Mich interessiert die Existenz der Menschen und nicht das, was sie vorzeigen.“ Orte auch, die etwas Uneindeutiges ausstrahlen, die von einer Durchreise, einem Übergang erzählen – von Ankunft oder Abreise, von gewesener Arbeit und zukünftigen Träumen. Von enttäuschten Hoffnungen. „Das Ruhrgebiet ist ja eine ungeheuer verwundete Region“, sagt Maria Neumann, und: „Ich finde es wichtiger, hier zu sein, als irgendwo, wo die Menschen mit Kultur übersättigt sind.“

Karg und weit ist auch der Raum, in dem wir sitzen: Holzdielen, viel Luft nach oben, möbliert mit drei Stühlen und einem alten Koffer. Halb Wohnung, halb Bühne (dazu später noch), ein Altbau in der Duisburger Lotharstraße mit Blick auf die Uni. Das Uneindeutige, das ist leicht auch in Maria Neumann selbst zu entdecken, zu bestaunen: wie die 55-Jährige da klein und schmal in einem Schaukelstuhl sitzt, im Herrenanzug mit Kapuzenpulli, das Gesicht nicht faltenfrei, aber von kindlichem Leuchten erfüllt: eine Frau, ein Junge, ein junges Mädchen?

Start als Handkes „Kaspar“

„Ich möchte der sein, der einmal ein anderer gewesen ist“: Mit diesem programmatischen Wandel-Satz, mit Peter Handkes „Kaspar“ begann sie am Mülheimer Theater an der Ruhr; nahezu frisch weg von der Schauspielschule Hannover, mit einem kleinen Schlenker nur über das Schauspiel Essen.

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Theater und Satz und Stück blieben ihr bis heute. „Da ist ja alles schon drin, die Sprache, die Abrichtung, die Identität – dieses ganze Schauspielthema.“ Noch immer steht Roberto Ciullis „Kaspar“-Inszenierung auf dem Spielplan, ein zum Klassiker gewordenes Wagnis. Ebenso hartnäckig und beständig entwickelte sich ihr ureigenes Projekt. „Maria Neumanns Märchenstunde“, weit mehr als Kindertheater (aber auch), wuchs an auf zwölfmal Grimm und zweimal Andersen.

Es war einmal: böse Stiefmutter und schönes Schneewittchen, kleines Schneiderlein und zwei Riesen. Es war einmal eine einzige Schauspielerin, die mühelos einen Reigen der Rollen tanzt: die zeigt, dass Gut und Böse Entscheidungen sind, Möglichkeiten. Und so eine Welt erschließt, die jenseits einer weichgespülten Disney-Realität die großen Themen der Menschheit in kürzest mögliche Form fasst: Tod und Verrat, Liebe und Heimat, vom Schneewittchenmord bis hin zur Migration der Bremer Stadtmusikanten. Die sie auch vor Flüchtlingskindern spielt.

Froschkönig spricht ruhrgebietstypisches Türkisch

Und wenn der „Froschkönig“ ruhrgebietstypisches Türkisch spricht, „dann haben die türkischen Kinder den deutschen mal etwas voraus und können vorsagen“. Der Mühen Lohn, das sind die Zwischenrufe: die mutig kundtun, dass Rapunzels Turm doch gar kein Turm ist. Sondern eine Leiter. „Das ist eine wichtige Beobachtung! Es handelt sich gar nicht um einen Turm, aus dem es kein Entkommen gibt.“ Zu zeigen, wie viele Interpretationen eine Situation zulässt, „das kann nur Theater!“ Die Märchen, die Maria Neumanns Gesicht tragen, sind Stärkungspillen auf dem Weg zur Menschwerdung; zugleich Geschichten von einer, die schon als Kind von Heidelberg aus in die Welt zog, von Stadt zu Stadt und Schule zu Schule – eine unfreiwillige Reise und vielleicht der Kern ihrer Arbeit.

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Dass sie ihre Lebensthemen – die Ich-Werdung, die Reifung, die Überwindung von Leid und Schrecken – hier in die Tiefe denken darf, das hat Maria Neumann an Mülheim gebunden und ferngehalten von der Suche nach größerem Ruhm. Ebenso die „ganze Unfreiheit“, die sie in der Existenz eines freien Schauspielers ahnt: „Diese absolute Fremdbestimmung ist für mich das Schreckgespenst“, der Quotendruck oder das Tingeln von Bühne zu Bühne.

Warum waren eigene Kinder, war Familie nie ein Thema, gerade bei dieser Sesshaftigkeit? Mit ih­rem Lebenspartner, „meinem Lebensmenschen“ fühlt sich Maria Neumann „tief verbunden“; „aber die Kinder irgendwo zu lassen, um dann selbst zu spielen, das hätte ich nie gewollt. Ich hätte dann schon gefunden, die Kinder haben das größere Recht zu spielen. Vielleicht hätten Kinder aber auch das Spielen ganz erübrigt . . .“ Ein Zögern, ein Lachen: „Wenn du Kinder hast, da hast du ja absolut genug Dramen. Das ist doch ganz großes Theater.“

Theater in den eigenen vier Wänden

Aber Wohnung, sag, warum hast du nur so große, so spielzimmergroße Räume? Die Antwort: weil ich nicht nur Wohnung, sondern auch Bühne bin; einer der vielen uneindeutigen Orte der Region. Den alttestamentarischen „Hiob“ lässt Maria Neumann hier, in ihren eigenen vier Wänden, gegen Gott klagen. Ein Experiment, in dem sie Regisseurin, Dramaturgin, Bühnenbildnerin und Schauspielerin zugleich ist, eine Gratwanderung und „Erfahrung“. Und siehe: Die Friseurin und den Arzt aus der Palliativmedizin interessieren diese Schicksals- und Gottesklagen ebenso wie den Christen und den Muslim. „Im Ruhrgebiet treffen sich Gläubige aus aller Welt. Der Glaube gibt Identität in einer Region, die keine eigene Identität hat.“ Und wie hält sie selbst es mit der Religion? „Ich versuche, den Glauben zu spielen. Ich tue so, als ob.“ Ein kindliches, ein strahlendes Lächeln: „Für mich ist das eine echte Glaubenserfahrung.“