Essen. . Die Ruhrtriennale spielt Monteverdis „Orfeo“ unkonventionell in der Mischanlage auf Zeche Zollverein: Eurydike lässt es sich in der Unterwelt gar gut gehen.
Bevor es in die Klüfte der Unterwelt hinabgeht, wird man zunächst, bequem in der Seilbahn, auf die Spitze der gewaltigen Mischanlage der Zeche Zollverein gehievt. Ein trichterartiges Labyrinth, das sich an bizarren, felsartigen Steinformationen entlang über drei Etagen in den Abgrund schlängelt. Eine beeindruckende Kulisse für die Geschichte des thrakischen Sängers Orpheus, der mit der Kraft seines Gesangs die Furien der Unterwelt zu besänftigen vermag, um seine Eurydike ins Leben zurückbringen zu können.
Wanderung durch den Ruhrgebiets-Hades
„Orfeo“ heißt auch die erste weitgehend vollständig erhaltene Oper der Musikgeschichte. Claudio Monteverdis Musik aus dem Jahr 1607 bildet nun das Gerüst einer Wanderung durch den Ruhrgebiets-Hades, die das niederländisch-deutsche Regie-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot für die Ruhrtriennale als „Sterbeübung“ zelebriert.
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Jeweils acht Zuschauer werden im Abstand von zehn Minuten eingelassen und durch das 80-minütige Erlebnis geführt. Fühlt man sich angesichts der schroffen Kulisse wie im Vorhof der Hölle, entpuppt sich das Innere des Höllenpfuhls als banale Zimmersuite mit Design-Sofa, Mattscheibe, einer imaginären Küche und sogar einer Duschkabine.
Monteverdis Oper um das 230-fache gedehnt
Ein mit Blümchentapeten hergerichtetes Spießer-Ambiente, aus dem Eurydike nach Ansicht des szenischen Teams gar nicht befreit werden will. Das Jenseits verliert jeden Schrecken. Eurydike erscheint gleich in mehrfach geklonter Ausführung, in pink-gelber Freizeitkleidung, verjüngt zu grell aufgebrezelten Blondinen, mit wächsernen Masken versehen, die mit ihren breiten Nasenflügeln und wulstigen Lippen an hellhäutige Avatar-Mutationen erinnern. Orfeo (zurückhaltend und kultiviert der Bariton Hubert Wild) tritt erst kurz vor Ende der Reise in Erscheinung, wenn er jeweils zwei Besuchern ein knappes Gesangs-Solo schenkt, bevor wir im letzten Raum Eurydikes sanftem Sterbeprozess beiwohnen dürfen.
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Hier begegnet man zum ersten Mal auch dem Streicher-Oktett des Berliner Solistenensembles „Kaleidoskop“ unter Leitung von Tilman Kanitz und Michael Rauter, dessen archaisch strenge Klänge bis dahin stets aus der Ferne gespenstisch leise in die Räume drangen, teilweise elektronisch verfremdet, so dass sich interessante Klangüberlagerungen ergeben. Gespielt wird Monteverdis Oper. Allerdings um das 230-fache gedehnt, so dass die Aufführung der gesamten Oper von der Premiere bis zur letzten Aufführung 18 Tage beansprucht. Es scheint, dass sich Dies- und Jenseits lediglich in der Aufhebung des Zeitgefühls unterscheiden. Die disziplinierten Statistinnen der Eurydike bewegen sich, wenn überhaupt, im Schneckentempo.
Allein im Sterbezimmer der Eurydike
Ein Event, in dem man sich vorübergehend in eine andere Welt versetzt fühlen kann. Da allerdings die meiste Zeit in den banalen Wohnkammern verbracht wird, kommt die Wucht der architektonischen Kulisse der Mischanlage zu wenig zur Geltung. Immerhin ein Projekt, das sich in dieser Form nur in den einzigartigen Spielstätten der Ruhrtriennale realisieren lässt.
Beifall gibt es nicht. Wer das Sterbezimmer verlässt, geht allein und schweigsam über stählerne Treppen dem Ausgang zu. Mit der Erkenntnis, dass das Jenseits kein Schreckensort sein muss. Aber im Diesseits kann es auch ganz schön sein.