Essen. Der „Stimmpapst“ Jürgen Kesting gilt als herausragender Kenner des Operngesangs. Ein Gespräch über Mikrophon-Manipulation, früh verheizte Stimmen und das Phänomen Paul Potts. Und warum Jonas Kaufmann vor Kestings Ohren noch am ehesten Gnade findet.

Jürgen Kestings Urteil ist geachtet – und gefürchtet. Der gebürtige Duisburger gilt als „Stimmpapst“, sein Buch „Die großen Sänger“ als Standardwerk zum Operngesang. Über die Zukunft dieser Kunst, aber auch über Fluch und Segen des Mikrofons sprach Lars von der Gönna mit ihm.


Wozu hat das Mikrofon in der Klassik geführt?

Jürgen Kestings: Dank der technischen Reproduzierbarkeit konnte der größte Teil des Repertoires erschlossen werden. Seit sechs Jahrzehnten wissen wir aber auch, dass über das Mikrofon – als Pars pro Toto – manipuliert werden kann. Wir erleben, dass Sänger mit kleinen Stimmen in großen Rollen eingesetzt werden – in Rollen, die sie auf der Bühne nicht singen können. Oder durch die sie sich auf der Bühne selber zugrunde richten würden.

Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass Plattenstudios eine Hexenküche der Optimierung sind?

Kestings: Das ist das Problem. Seit Erfindung des Mikrofons, also den 20er-Jahren, kann ein Sänger, auch ein Pop- oder Schlagersänger etwas erreichen, was er sonst in einem Auditorium vor 1000 Hören nie erreichen könnte. Allerdings sei betont, dass ein gut projiziertes Piano auch in einem großen Raum bis in die höchsten Ränge schweben kann – wie auf einem fliegenden Teppich.

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Von Von SONJA MERSCH

Sie beklagen, dass selbst große deutsche Häuser einen „Otello“ oder „Tristan“ nicht mehr aus den eigenen Reihen besetzen können. Woran liegt das?

Kestings: Die sängerische Ausbildung in einem Ensemble ist verloren gegangen. Wenn heute ein junger Sänger im Festengagement drei gute Kritiken bekommt, gibt es sogleich Angebote aus aller Welt. Da singt ein junger Tenor an einem kleineren Theater in der „Zauberflöte“ einen ordentlichen Tamino, und schon bietet ein großes Theater ihm den „Lohengrin“ an. Man kann es den Sängern nicht mal verübeln, die wollen ihre Laufbahn machen. Aber sie können das Risiko nicht abschätzen. Eine Zeit lang hilft ihnen die Kraft der Jugend, sich auch in zu großen Rollen durchzusetzen. Es gibt unter den Theaterdirektoren, den Dirigenten und Agenten leider immer mehr Headhunter, die nur in ihrem eigenen Interesse handeln und nichts dabei finden, einen Sänger mit solchen Angeboten zu ruinieren.

Jonas Kaufmann kommt gut bei Ihnen weg. Mangels Konkurrenz?

Kestings: Geht es darum, ob ein Sänger bei einem Kritiker gut wegkommt? Es geht doch eher um eine sachliche Auseinandersetzung. Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts gab es eine Schar sehr guter, sogar exzellenter Tenöre: Carlo Bergonzi und Franco Corelli, Nicolai Gedda und Alfredo Kraus. Und die tenorale Dreifaltigkeit Domingo, Carreras und Pavarotti war außergewöhnlich. Heute sehe ich bei den Tenören wenige Sänger ähnlichen Ranges: Piotr Beczala mit einer sehr gesunden, intakten Stimme. Kaufmann ist ein exzellenter Darsteller gerade mit den Mitteln der Stimme. Manchmal hat man bei ihm, wie einst bei Jon Vickers, das Gefühl, dass er mit zwei Stimmen singt: einer dunklen Bruststimme und einer raffiniert gemischten Kopfstimme. Er ist ausgesprochen gut beraten in der Wahl seiner Rollen, und man hört auch, dass er die großen Tenöre vor ihm sehr genau kennt. Er hat von ihnen gelernt, aber er meidet es, sie zu imitieren. Dazu ist er ein glänzender Bühnen-Darsteller. Ich finde ihn bemerkenswert gut.

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Mit Paul Potts hat ein Handyverkäufer, der „Nessun dorma“ singt, die Massen elektrisiert. Muss man kein großer Sänger sein, um Herzen zu erreichen?

Kestings: Erreicht er wirklich die Herzen? Ich bin überzeugt, dass das Triviale schädlich ist. Dass es den Geschmack nivelliert und das Unterscheidungsvermögen zerstört. Potts erreicht mit einer längst zum Schlager gewordenen Melodie ein Publikum, für das „Nessun dorma“ nichts anderes ist als ein Hit. Wenn diese Schlager-Konsumenten in die „Turandot“ gehen würden, würden sie verzweifelt zwei Stunden warten, bis endlich diese Arie erklingt. Potts „Nessun dorma“ befriedigt eine simple Emotion.

Gesang als elitäres Vergnügen?

Kestings: Meistergesang ist die Kultur einer Elite, aber das hat nichts mit Geld zu tun. Elitär ist der Eintritt in die sogenannte Premium World von BMW. Da liegt der Eintrittspreis bei 40 .000 oder 50. 000 Euro. Warum klagen Leute, die 3000 Euro für vier Speichenräder zahlen, dass eine Konzertkarte 80 Euro kostet? Das ist zugespitzt, aber Kunst ist nur in einem Sinne elitär: Ich wähle etwas aus – mit Bewusstsein. Mit Snobismus hat das nichts zu tun. Im Stehparkett der Wiener Staatsoper habe ich unendlich mehr Sachverstand angetroffen als bei den Leuten, die die Parkettplätze bezahlen konnten.