Essen. Wagner-Musik verspricht Gänsehaut, aber nicht nur sie. Das Phänomen beschäftigt die Forschung. Musikphysiologe Prof. Eckart Altmüller erklärt, warum wir nicht nur vor Kälte, sondern auch vor freudiger Erregung zittern. Und kommt zu dem Schluss: "Die Gänsehaut gehört zum Menschsein."
Professor Dr. med. Eckart Altenmüller ist Musikphysiologe an der Hochschule für Musik und Theater Hannover: Aktuell untersucht er Gänsehaut-Momente in der Musik. Lars von der Gönna sprach mit ihm über Schauer in Bayreuth und anderswo.
Sie erforschen. . .
Eckart Altmüller: . . . was die Ursprünge der Musik in der Evolution der Menschheit sind.
Unter anderem widmen Sie sich der Gänsehaut. Ist sie eine menschliche Spezialität?
Eckart Altmüller: So wie Emotion etwas ist, was wir mit anderen Säugetieren teilen, gilt es auch für die Gänsehaut. Auch Affen haben Gänsehaut: bei „Trennungsrufen”. Ruft eine Affenmutter ihr Kind, bekommt es Gänsehaut.
Musik, die Gefühle auslöst, ist ihren Wurzeln nach also mehr als nur Folklore?
Eckart Altmüller: Der Psychologe Steven Pinker hat die Musikevolutionsforscher auf die Barrikaden gebracht als er sagte: „Musik ist akustischer Käsekuchen” – schön, aber überflüssig. Tatsächlich verschafft sie uns aber einen reellen Überlebensvorteil. Der Mensch war lange bedroht. Er musste die Eiszeit überstehen, sich gegen viele Feinde wehren. Musik aber machte das Leben früh lebenswert. Musik befriedigt emotional. Sie förderte die Gemeinschaft, sie half Aktionen zu synchronisieren. Sie war die Brücke vom Individuellen zum Gemeinsamen.
"Die Gänsehaut gehört zum Menschsein"
Haarsträubend
Den Nerv gereizt
Kälte oder starke Emotionen reizen das vegetative Nervensystem. Das bewirkt, dass sich die Haarbalgmuskeln in der Haut zusammenziehen und das Haar aufrichten. Der Haarfolikel erhebt sich und bildet ein Höckerchen. Gesträubte Haare ließen pelzige Vorfahren des Menschen größer und breiter erscheinen, aber schützten auch vor Kälte. Die nackte Haut erinnert an eine gerupfte Gans. (hni)
Reagieren alle Menschen emotional auf Musik?
Eckart Altmüller: Es gibt nur drei Prozent, die „kongenitale Amusie” haben. Der Rest ist bildbar.
Es wäre aber zu optimistisch zu glauben, dass wir irgendwann alle von Karl Moik zu Gustav Mahler finden?
Eckart Altmüller: Es gibt Menschen, deren Lernfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne nicht so stark ausgeprägt ist. Aber man sollte gerade bei klassischer Musik einen Faktor nicht unterschätzen: Angst! Das ist eine eigene Welt, das ist für viele die Welt des Abendanzugs, der Krawatten, der dunklen Limousinen. Aber es gibt auch Phänomene, die man als Fan von Opern akzeptieren muss: Für die Mehrheit der Jugendlichen ist typischer Operngesang, etwa Vibrato-Töne, unerträglich. Sie finden ihn einfach ekelhaft.
Warum hat die gleiche Musik bei Menschen unterschiedliche Wirkung?
Eckart Altmüller: Das beeinflussen genetische und biografische Faktoren, Persönliche Erfahrung ist ungeheuer einflussreich. Unbekanntes wird selten gern gehört. Es gilt: „Ich mag mehr, was ich schon kenne”. So funktioniert das Prinzip der Hitparaden. Wenn man etwas nur oft genug spielt, hat man seinen Sommerhit.
Ob Sommerhit oder „Tristan”. Warum kriegen manche Menschen von Musik eher eine Gänsehaut als andere oder weinen gar?
Eckart Altmüller: Um bei Musik zu weinen, muss man dafür die Persönlichkeit mitbringen. Man spricht von „Low-Sensation-Seekers”, also Menschen, die eine sehr niedrige Reizschwelle haben, die nah am Wasser gebaut haben. Vom Typ her sind das eher Menschen, die stark abhängig sind von gesellschaftlicher Anerkennung. Sie haben definitiv die meisten Gänsehäute. Etwa wenn in Wagners „Parsifal” in der Gralsszene die Ritter einmarschieren. Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, ist eher autark, aber er hat vielleicht ein vergleichbares entsprechendes Erlebnis unter 15 000 Menschen und entsprechender Dezibel-Zahl beim Hurricane-Festival in Scheeßel.
Kalkulieren Komponisten Gänsehautgefühle ein?
Absolut! Wagner hat das meisterhaft beherrscht und eingesetzt. Das kann man bei ihm nachlesen. Und Mozart erst: Er schrieb seinem Vater regelmäßig, wie bei Konzerten genau an der von ihm gewünschten Stelle das Publikum mit „oho und aha” reagiert habe.
Sie haben über 1000 musikalische Gänsehaut-Momente wissenschaftlich erfasst. Gibt es einen Klang für alle?
Eckart Altmüller: Nein, es gibt nicht den Gänsehaut-Akkord in der Musik. Aber wenn Musik innerhalb eines Stückes lauter, brillanter wird – etwa bei den Fanfaren im Lohengrin-Vorspiel – löst das schon bei sehr vielen Menschen etwas aus.
Stirbt die Gänsehaut irgendwann aus?
Eckart Altmüller: Das glaube ich nicht. Die Gänsehaut gehört mit zum Menschsein. Aber natürlich gibt es gänsehautfeindliche Tendenzen. Wenn jeden Morgen aus dem Radiowecker Lohengrin schallt, ist es mit der Gänsehaut irgendwann vorbei. Die Dauerbeschallung und Omnipräsenz der Musik ist nicht ohne Wirkung. Aber große Erlebnisse werden immer große Gefühle auslösen, das lässt mich an die Zukunft der Gänsehaut glauben.
Was ist Ihr persönlicher Gänsehaut-Faktor?
Eckart Altmüller: Die menschliche Stimme. Und bei „Parsifal” falle ich von einer Gänsehaut in die andere.