Essen. Schlimmer noch als politisches Lügen ist das „Bullshitting“. Die AfD könnte sich von Donald Trump abschauen, wie das funktioniert.

Seit Donald Trump in den USA die Präsidentschaftswahlen auf beeindruckende Weise klar gewonnen hat, treibt mich die Frage um, ob eine faschistoide Politik auch in Deutschland grundsätzlich mehrheitsfähig sein könnte. Wie das Kaninchen auf die Schlange blicken aufrechte Demokraten ja schon auf das Jahr 2029, in dem es regulär wieder eine Bundestagswahl geben könnte. Wäre es denkbar, dass antidemokratische Kräfte ihre Stimmanteile im Vergleich zu den Umfragen heute bis dahin noch einmal verdoppeln?

Absehbar ist, dass eine nächste Bundesregierung wieder daran scheitern könnte, nahezu unlösbare Probleme zu lösen, ohne die Bürgerinnen und Bürger dabei kräftig zur Kasse zu bitten. In der nächsten lagerübergreifenden Koalition dürfte der Streit so programmiert sein wie in der Ampel zuvor. Im schlimmsten Szenario müsste die AfD das nur geduldig abwarten, um dann mit ihrer Mischung aus Lügen, Hass und vermeintlich einfachen Rezepten zuzuschlagen.

Alice Weidels lange Nase

Die Parteivorsitzende und Kanzlerkandidatin der AfD, Alice Weidel, hat uns gerade wieder einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es funktioniert, wenn man – wie Trump – auf jede Wahrhaftigkeit pfeift, um politisch zu punkten. Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg vor vier Wochen nutzte sie nur drei Tage später eine Gedenkveranstaltung vor Ort, um zu behaupten, der Täter sei ein „Islamist“ gewesen, weil das besonders gut zur AfD-Propaganda passt. Tatsächlich war längst klar, dass der Mann aus Saudi-Arabien in keines der gängigen Raster passt: Er hasste den Islam und stand der AfD daher sogar ausdrücklich besonders nah. Weidel hatte kein Problem damit, die Öffentlichkeit anzulügen. So weit, so schlecht.

Was aber besonders alarmierend ist: Weite Teile der Öffentlichkeit selbst haben in Deutschland inzwischen offenbar kein Problem damit, angelogen zu werden. Es reicht, wenn eine Tatsachenbehauptung ins eigene Weltbild passt. Sie muss dafür nicht notwendig wahr sein. Wie gesagt: Das gilt für Teile der Öffentlichkeit. Nur wächst dieser Anteil womöglich recht schnell auf US-Niveau an.

„Hitler war ein Kommunist“

„Ehrlichkeit“ sei „die neue Coolness der Jugend in Deutschland“, hieß es 2016 in einer Studie des Hamburger Zukunftsforschers Horst W. Opaschowski. Nach einer Befragung durch das Ipsos-Institut hätten 77 Prozent der 14- bis 24-Jährigen Ehrlichkeit damals für besonders wichtig gehalten. Heute sind die meisten aus dieser Altersklasse auf TikTok unterwegs. Keine politische Partei ist auf dieser Plattform so erfolgreich wie die Lügen-AfD. Ist „Ehrlichkeit“ nicht mehr „cool“?

Auf TikTok kann Alice Weidel jedenfalls das, was die Schule im Geschichtsunterricht vermittelt, munter in ihrem Sinne „korrigieren“ und zum Beispiel wiederholen, was sie gerade in einem öffentlichen Dialog mit Tech-Milliardär Elon Musk zum Besten gegeben hat: nämlich dass Hitler ein Kommunist war. Ein Kommunist! Wer hätte das gedacht? Tatsache ist, dass Hitler Kommunisten tausendfach umbringen ließ, weil er sie verachtet hat. Weidel weiß das. Jeder weiß das. Wieso lügt sie dennoch, so ungeniert, so dreist? Kann das funktionieren?

Der Berliner Politikwissenschaftler Michael Zürn sieht hier einen systematischen „Angriff auf das liberale Wahrheitsregime“ unserer Gesellschaft. Dabei sei die gelegentliche Lüge gar nicht das entscheidende Problem. Zürn verweist in einem kurz vor dem Jahreswechsel in der „FAZ“ erschienenen Gastbeitrag darauf, dass die Lüge schon immer ein Bestandteil der Politik war. Da werden Steuererleichterungen versprochen, wohlwissend, dass die öffentlichen Haushalte das nicht hergeben. Die politische Lüge funktioniert auch im großen Maßstab: Mit der verlogenen Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen, haben die USA damals einen Krieg scheinlegitimiert. Allerdings birgt die Lüge für den Lügner eine Gefahr: Sie kann als solche auffliegen und den Lügner bloßstellen.

Official portrait of US President-elect Donald Trump
Donald Trump weiß, wie man Wahrheit zersetzt – und damit die Demokratie. Ist das ein Vorbild für Deutschland? © EPA-EFE | TRUMP VANCE TRANSITION TEAM HANDOUT

Der Trumpismus, dessen Methoden sich auch Alice Weidel bedient, funktioniert derweil ganz anders. Der Lügner macht sich hier gar nicht die Mühe, die Wahrheit zu verbergen und sie somit indirekt anzuerkennen. Sie ist ihm schlicht gleichgültig. Der Philosoph Harry Frankfurt hat dies mal etwas unfein „Bullshitting“ genannt. Wer „Bullshitting“ betreibt, untergräbt und zersetzt die Idee der Wahrheit selbst. Er flutet die Öffentlichkeit mit Falschinformationen; nichts kann absurd genug sein. Das Ziel sei, so beschreibt es Zürn, „andere zu beeindrucken oder Dominanz zu demonstrieren“. Das „Wie“ der Kommunikation wird wichtiger als das „Was“; die Rhetorik benötigt keine Substanz.

Gibt es wirklich hunde- und katzenfressende Migranten in Springfield? War Hitler tatsächlich ein Kommunist? Rationalität und Logik haben hier keinen Platz. Es geht um Emotionen, um die Bestätigung von Vorurteilen, um wohlige „alternative Fakten“. Trump hat bei seinen Fans durch eine beispiellose „Bullshit“-Kampagne auf die richtigen Knöpfe gedrückt und sie so zu einer irrationalen Wahlentscheidung gebracht, die ihnen am Ende selber schaden wird (man denke nur an Trumps Pläne, den Zugang zum Gesundheitssystem zu beschränken). Es ist nicht auszuschießen, dass Weidel und Co. es auch in Deutschland gelingen kann, durch ähnliche Vorgehensweisen ihre Zustimmungswerte von 25 auf 50 Prozent anzuheben und so die Unvernunftslücke zu den USA zu schließen.

Lügen- statt Meinungsfreiheit

Lügenfreiheit kommt dabei nicht selten unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit daher. Alles, wirklich alles kann gesagt werden. Zur Perfidität gehört, dass gerade jene, die diese Schrankenlosigkeit schamlos nutzen, permanent behaupten, man dürfe in Deutschland inzwischen „ja nichts mehr sagen“. Fast hätte ich geschrieben: Was für ein Bullsh ... Nehmen wir nur den neuen Chefredakteur der „Welt“, Jan Philipp Burgard – jener Zeitung also, die Elon Musk gerade Raum für eine unterkomplexe AfD-Wahlempfehlung gegeben hat. Burgard schrieb vor einigen Tagen in seinem ersten Newsletter, wir lebten „in Zeiten von verengten Meinungskorridoren“. Was für ein durchschaubares und insofern intellektuell beleidigendes Narrativ!

Das Gegenteil ist richtig. Man kann heute in der Migrationspolitik Dinge sagen, für die man vor wenigen Jahren noch als „Rechtsradikaler“ beschimpft worden wäre. Der Korridor ist nicht enger geworden, sondern weiter. Zumindest ist er deutlich nach rechts verschoben. Und er verschiebt sich kontinuierlich. Schon arbeitet die AfD munter daran, das Wort „Remigration“, das millionenfache Massenabschiebungen meint, zu etablieren. Remigration ist nur ein anderes Wort für die alte NPD-Parole „Ausländer raus!“ Alice Weidel hat es gerade genüsslich durchbuchstabiert auf dem AfD-Parteitag: „Re-mi-gra-tion“. Im Bundestag hatte sie der Regierung vor allem wegen deren Migrationspolitik unlängst entgegengezischt: „Sie hassen Deutschland“ – und das vor dem Hintergrund der Vaterlandsverräter in den eigenen Reihen, die mit Putin paktieren.

AfD-Hochburg Gelsenkirchen

Wie eng „Wahrheit und Demokratie“ miteinander verwoben sind, hat die deutsch-amerikanische Publizistin Hannah Arendt ausführlich beschrieben. In totalitären Systemen gibt es ihr zufolge keine „Integrität gegenüber Tatsachen“. Der „menschliche Orientierungssinn“ könne „ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren“. Am Ende werden die Menschen blind für das, was geschieht; sie resignieren. Meiner Meinung nach lässt sich das in Putins Russland ganz gut beobachten.

Wollen wir da auch hin? Wollen wir diese Angriffe auf das liberale Wahrheitsregime hinnehmen? Bei der vergangenen Europawahl holte die Lügen-AfD ausgerechnet im Ruhrgebiet ihre besten NRW-Ergebnisse. In Gelsenkirchen zog sie sogar an der SPD vorbei und holte mit 21,7 Prozent ihr landesweit stärkstes Resultat. Dabei gehört es doch zum Selbstbild der Menschen im Ruhrgebiet, offen und ehrlich zu sein. Das ist mehr als nur ein Klischee. Das ist Kultur. Ohne Ehrlichkeit als Voraussetzung für Vertrauen und Verlässlichkeit hätte die gefährliche Arbeit der Bergleute unter Tage nicht funktioniert. Und was unter Tage gut war, konnte oberhalb der Zechen nicht schlecht sein. Passen wir also gut auf, wenn jemand „Kokolores“ erzählt, um das B-Wort zu vermeiden. Unehrlichkeit darf nicht cool werden.

Auf bald.

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