Koblenz/Wolfenbüttel. Polio gilt zwar als ausgerottet, doch bundesweit gibt es noch etwa 50.000 bis 70.000 Patienten, die mit den Folgen dieser Krankheit kämpfen. In Koblenz können sie sich in Deutschlands einziger auf Kinderlähmung spezialisierten Krankenhausstation behandeln und therapieren lassen.
Einen Kinofilm übersteht Bettina Langpfahl nur mit einer zusätzlichen Schmerztablette, spazieren geht sie maximal zehn Minuten, nachts braucht sie ein Beatmungsgerät. Damit kann die 55-Jährige einige Stunden schlafen, bis die Rückenschmerzen die Oberhand gewinnen. Langpfahl ist als Zweijährige an Kinderlähmung erkrankt. Und noch heute treten Folgen der Krankheit bei ihr auf. Die Frau aus Wolfenbüttel ist regelmäßige Patientin in Deutschlands einziger Krankenhausstation für Polio-Patienten im Brüderhaus des Katholischen Klinikums Koblenz-Montabaur (Rheinland-Pfalz). Die seit 2009 bestehende Abteilung hat gerade neue Räume bezogen.
Kinderlähmung, das gibt es immer noch? Ist das ansteckend? Das sind die häufigsten Fragen, die Langpfahl hört. Inzwischen kann die frühpensionierte Kirchenbeamtin damit umgehen, aber lange versteckte sie ihre gelähmte rechte Hand. "Das ist ein Teil von mir, und er ist wertvoll - das musste ich erst lernen", sagt die Patientin mit den leuchtend roten Haaren und der Vorliebe für bunte Kleidung. Sie trägt ein Stützkorsett, weil sonst ihr Oberkörper nach rechts kippen würde.
Poliomyelitis ist eine Viruserkrankung, die die muskelsteuernden Nervenzellen absterben lässt und zu Muskelschwäche, Lähmungen und Schmerzen führt. Viele Betroffene leiden nachts unter Atemaussetzern, das Zwerchfell ist eben auch ein Muskel. In den 1950er Jahren entwickelten Forscher einen Impfstoff zum Schutz vor der Infektionskrankheit. Doch wer einmal erkrankt ist, leidet unter den Folgen. "Wir können Polio nicht heilen, weil wir den Stoffwechsel der Nervenzelle nicht beeinflussen können", erklärt der Leiter des Polio-Zentrums, Axel Ruetz.
Krankheit gilt als ausgerottet
Im vergangenen Jahr klappte plötzlich das Bein unter Polio-Patientin Langpfahl weg. 52 Jahre nach der Infektion bemerkt sie neue Spätfolgen bei sich: Lähmungen im Bein, Kraftverlust, ständige Erschöpfung: "Wenn ich mich mittags nicht hinlege, schlafe ich mitten im Gespräch ein", sagt die Mutter zweier erwachsener Söhne. Ruetz beobachtet derartige Symptome noch 40 bis 50 Jahre nach der Infektion bei vielen Erkrankten. Das Problem: Es könnten auch Alterserscheinungen sein. Ärzte, die weniger Erfahrung mit der Krankheit haben, erkennen das sogenannte Post-Polio-Syndrom oft nicht, sagt der Orthopäde Ruetz. Er selbst wuchs mit der Krankheit auf, sein Vater hatte Kinderlähmung.
Schätzungen zufolge leben alleine in Deutschland 50.000 bis 70.000 Polio-Patienten. Die Krankheit gilt als ausgerottet, jedoch warnt das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, dass das Virus über syrische Flüchtlinge wieder ins Land gelangen könnte. Auch Bundeswehrsoldaten brächten den Erreger aus Afghanistan mit, erläutert Ruetz. Und laut RKI werden fünf Prozent jedes Geburtenjahrgangs in Deutschland nicht gegen Polio geimpft - das seien jeweils mehrere zehntausend ungeschützte Kinder.
Das Polio-Zentrum in Koblenz nahm im vergangenen Jahr 508 Polio-Patienten aus ganz Deutschland stationär auf, einige auch aus dem Ausland. Hinzu kamen 3000 ambulante Behandlungen. Bis zum Sommer könnten stationär nur noch Notfälle eingeschoben werden.
Viele Mediziner kennen sich mit Polio nicht aus
Die Kranken haben in Koblenz volles Programm: Je nach Bedarf wird eine computergestützte Ganganalyse gemacht, sie bekommen medizinische Hilfsmittel wie Orthesen, machen Krankengymnastik, Schmerzen werden behandelt. Dank der neu gebauten Station mit 22 Betten müssen sie dafür keine weiten Wege mehr zurücklegen. Das ist eine große Erleichterung für Menschen, denen jeder Schritt schwerfällt.
"Als Polio-Patient hat man eine Arzt-Odyssee hinter sich, bis man hierherkommt", weiß Langpfahl, die sich auch im Bundesverband Polio engagiert. Viele Mediziner und Therapeuten würden sich einfach nicht auskennen, klagt die Frau. Ihren Tag übersteht sie nur mit starken Schmerzmitteln, aber sie weigert sich beharrlich, ihr ganzes Leben von ihrer Krankheit bestimmen zu lassen.
Sie liebt es, mit ihrem Mann Poetry Slams zu besuchen und beaufsichtigt im Sommer ehrenamtlich Frauen, die Sozialstunden ableisten müssen. "Das Selbstbewusstsein muss man sich erarbeiten", sagt Langpfahl, die wenig Verständnis für Polio-Patienten hat, die sich komplett aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Angst davor, später nicht mehr laufen zu können, habe sie nicht. "Angst habe ich nur vor Krebs", sagt die gläubige Christin. (dpa)