Essen. Es gibt zahlreiche Irrtümer rund um Krankheiten bei Kindern. Zum Beispiel: Wer die Masern durchsteht, nässt nicht mehr ein. Oder: Kinder, die zu viel rumzappeln, haben ADHS. Burkhard Rodeck ist Chefarzt des Christlichen Kinderhospitals in Osnabrück. Er erklärt Mythen und Falschannahmen.

Sie halten sich zum Teil hartnäckig: Irrtümer über Krankheiten bei Kindern. So sollen die Masern dabei helfen, dass Kinder nicht mehr in die Windel machen oder besser sprechen. Eltern fragen in Internetforen, ob sie ihren Kindern auch Tabletten für Erwachsene geben können.

Bei den kleinen Patienten kann man viel falsch machen. Burkhard Rodeck, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und Chefarzt des Christlichen Kinderhospitals Osnabrück, löst zehn Irrtümer zu Krankheiten bei Kindern auf.

Irrtum 1: Kinder, die viel rumzappeln, haben ADHS

Er kann nicht still am Tisch sitzen, schaukelt mit dem Stuhl und zieht schließlich die gesamte Tischdecke samt Essen zu Boden: Den Zappel-Philipp schuf der Arzt Heinrich Hoffmann 1845 in seinem Buch Struwwelpeter. In der heutigen Zeit müssten sich die Eltern des zappeligen Philipps vermutlich von Freunden und Bekannten anhören, ihr Sohne leide an ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

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Stimmt es, dass Kinder, die zu viel rumzappeln, ADHS haben? "Nein, das stimmt so nicht", erklärt Rodeck: "Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang, der sie von Erwachsenen unterscheidet, diesen aber manchmal 'auf die Nerven' geht." Den Bewegungsdrang der Jungen und Mädchen sollten die Eltern nicht unterbinden.

"Ausgeprägte Zappelei" könne allerdings auch ein Symptom beim ADHS sein, sagt der Mediziner und erläutert: "Dabei kann die Hyperaktivität der Kinder so stark sein, dass sie zu Störungen im Sozialverhalten führt." Eine solche Situation solle von einem Fachmann überprüft werden, rät der Chefarzt.

Irrtum 2: Eine Krankheit durchmachen ist besser, als gegen sie geimpft zu werden.

Die Diskussion um das Impfen ist in vollem Gange. Im Juli 2013 drohte Gesundheitsminister Bahr sogar mit der Impfpflicht, weil es in diesem Jahr einen rasanten Anstieg von Maserninfektionen gab. Manche Eltern sind für die Immunisierung, andere dagegen.

Die Gegner argumentieren unter anderem, dass es für die Kinder besser sei, eine Krankheit durchzustehen, als sie zu impfen. Stimmt das? "Diese Aussage ist falsch", entgegnet Rodeck: "Die Impfrisiken der heute verwendeten und empfohlenen Impfstoffe sind deutlich geringer als die möglichen Komplikationen der heutzutage eher verharmlosend genannten 'Kinderkrankheiten'."

Die Erfolge der Impfungen hätten dazu geführt, dass die Krankheiten und ihre Gefahren aus dem Bewusstsein der Deutschen geschwunden sind, sagt der Experte und fügt hinzu: "Das Leid der Kinder, die noch vor wenigen Jahrzehnten zum Beispiel an Kinderlähmung erkrankt sind, war unermesslich."

Irrtum 3: Kinder, die die Masern durchstehen, machen Entwicklungssprünge 

Die Masern würden Kindern gut tun, argumentieren User in Online-Eltern-Foren und berichten, dass ihre Kinder nach der durchstandenen Erkrankung Entwicklungsschritte gemacht hätten. So hätten die Kleinen besser sprechen gelernt, würden nicht mehr einnässen oder ihre Persönlichkeit sei gereift.

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"Diese Aussagen sind unsinnig, dafür gibt es keinerlei wissenschaftlichen Beleg", sagt Rodeck. Der Mediziner warnt eindringlich: "Kinder, die Masern durchmachen, können lebensgefährliche Organbeteiligungen wie Lungenentzündungen oder eine Entzündung des Gehirns und der Hirnhäute entwickeln."

So gebe es eine zwar seltene, aber nicht behandelbare Gehirnhautentzündung mit dem Namen subakute sklerosierende Panencephalitis (SSPS), die auch Jahre nach einer durchgemachten Masernerkrankung zu schwersten Schäden am Gehirn und zum Tod führe.

Irrtum 4: Karies bei Milchzähnen ist nicht schlimm – die fallen ja ohnehin aus

Mit 20 kleinen Zähnchen kommen Kinder in den ersten Jahren aus. Durchschnittlich verlieren die Jungen und Mädchen ab dem sechsten Lebensjahr den ersten Milchzahn. Dann kann Karies an den Milchzähnen doch eigentlich gar nicht so schlimm sein, wenn neue Zähne nachwachsen - oder?

"Es gibt Ursachen für Karies, meist ist das nicht ausreichende Zahnhygiene oder bei Kleinkindern die Nuckelflasche, die ständig im Mund ist", erklärt Mediziner Rodeck. Aber wenn schon bei den Milchzähnen Karies entstehe, müssen die möglichen Ursachen erkannt und beseitigt werden.

Denn sonst seien mit Sicherheit auch die nachfolgenden bleibenden Zähne betroffen, sagt Rodeck. Zudem verursache Karies auch bei Milchzähnen Zahnschmerzen. "Also muss Karies auch bei kleinen Kindern behandelt werden."

Irrtum 5: Die Polio-Impfung ist überflüssig, weil Kinderlähmung in Deutschland ausgerottet ist 

"Schluckimpfung ist süß - Kinderlähmung ist grausam." Mit diesem Slogan wurde in der Bundesrepublik jahrelang für die Polio-Impfung geworben, da es keine offizielle Impfpflicht, sondern lediglich eine Empfehlung gab.

Seit über zehn Jahren wird die Region Europa als poliofrei eingestuft, teilte die Weltgesundheitsorganisation anlässlich des Welt-Polio-Tages im vergangenen Jahr mit. Ist die Impfung gegen die Kinderlähmung also überflüssig, da die Krankheit in Deutschland ausgerottet ist?

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"Da Polio weltweit noch nicht ausgerottet ist, kann sich jede nicht geimpfte Person auf Auslandsreisen anstecken und die Erkrankung wieder nach Deutschland tragen", erklärt Rodeck: "Die Impfungen müssen so lange fortgeführt werden, wie die Erkrankung noch existiert."

Irrtum 6: Wenn man als Kind Scharlach hatte, ist man sein Leben lang immun

Scharlach, das ist die Krankheit, bei der man eine sogenannte Erdbeer- oder Himbeerzunge hat, weil diese im Verlauf der Krankheit glänzend rot wird. Dazu gibt es noch einen typischen Hautausschlag, unter anderem mit roten Flecken, die leicht hervorstehen. Doch stimmt es eigentlich, dass man nie wieder im Leben Scharlach bekommt, wenn man die Erkrankung als Kind hatte?

Burkhard Rodeck, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, klärt auf: Scharlach werde durch Bakterien, sogenannte Streptokokken, verursacht. "Der typische Hautausschlag wird durch bestimmte unterschiedliche Giftstoffe, Toxine, der Bakterien ausgelöst."

Eine Immunität werde nur gegen das vorherrschende Toxin entwickelt. "Da es verschiedene Streptokokkentypen mit unterschiedlichen Toxinen gibt, kann man an Scharlach mehrfach erkranken, nicht allerdings ausgelöst von demselben Streptokokkenstamm mit demselben Toxin. Gegen dieses bestimmte Toxin ist man immun."

Irrtum 7: Tabletten für Erwachsene kann man ohne Bedenken in niedrigen Dosen auch Kindern geben 

Es ist Wochenende, das Kind wird plötzlich krank, und die nächste Notfall-Apotheke ist weit weg. Im heimischen Medizinschrank finden die Eltern noch ein paar Tabletten, die eigentlich für Erwachsene gedacht sind.

Was tun? Kann man Kindern einfach ohne Bedenken Tabletten für Erwachsene verabreichen, vielleicht in niedrigen Dosen?

"Nein, auf keinen Fall", sagt Mediziner Rodeck. Er rät ganz dringend davon ab. Denn: "Der kindliche Stoffwechsel unterscheidet sich in vielen Bereichen von dem eines Erwachsenen." Bei jeder Medikation, die man einem Kind geben wolle, sollte man immer den Kinder- oder Jugendarzt zu Rate ziehen.

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Irrtum 8: Hohes Fieber hilft Kindern gesund zu werden

Wer krank ist und Fieber hat, der schwitzt die ganzen Erreger raus - auch das ist eine Weisheit die in manchen Familien von Generation zu Generation weitergegeben wird. Stimmt es also? Hilft hohes Fieber Kindern gesund zu werden?

Grundsätzlich sei Fieber eine normale Reaktion des Körpers auf eine Infektionserkrankung, erklärt Rodeck: "Die Stoffwechselvorgänge werden aktiviert, das trägt auch zu einer besseren Infektionsabwehr bei."

Aber: "Hohes Fieber kann seinerseits Probleme machen, so dass ab einer Temperatur von 38,5 bis 39 Grad fiebersenkende Maßnahmen sinnvoll sind", sagt der Mediziner.

Zu hohes Fieber hilft Kindern also nicht gesund zu werden. Dann hilft oft nur noch der Gang zum Kinder- oder Jugendarzt.

Irrtum 9: Typische Erwachsenen-Krankheiten, wie Migräne, Rheuma oder Demenz, kriegen Kinder nicht 

Denkt man an Migräne, Rheuma oder Demenz, dann sieht man vor dem inneren Auge vor allem Erwachsene oder alte Menschen, die an diesen Krankheiten leiden. Solche Erkrankungen sind eben typische Erwachsenen-Krankheiten, die Kinder nicht kriegen. Oder doch?

"Das ist definitiv eine falsche Aussage. Alle genannten Erkrankungen können auch im Kindesalter auftreten", antwortet Rodeck. "Die Ursachen von Demenz sind aber andere als im Erwachsenenalter", erklärt Rodeck.

Hinter der Demenz von Kindern kann zum Beispiel die Erkrankung Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen, kurz NCL, stecken. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, bei der das Hirn abgebaut wird. NCL tritt mit einer Häufigkeit von 1:30.000 auf.

Gerade Rheuma wird oft als "Alte-Leute-Krankheit" bezeichnet. Dabei leben laut der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie circa 15.000 Jungen und Mädchen in Deutschland, die an Rheuma erkrankt sind.

Irrtum 10: Wenn die Mandeln oft entzündet sind, müssen sie entfernt werden

Der Hals schmerzt, und die Mandeln sind dick angeschwollen. Eltern, deren Kinder vermehrt an Mandelentzündung leiden, wird oft zu einer Entfernung geraten. Doch kann man so generalisieren? Müssen die Mandeln immer entfernt werden, wenn sie zu oft entzündet sind?

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"Mandeln gehören zum Abwehrsystem des Menschen, sie haben somit insbesondere in der Kindheit eine Funktion. Bei immer wiederkehrenden eitrigen Mandelentzündungen kann eine operative Entfernung der Mandeln sinnvoll sein", erklärt Rodeck. Aber: Individuelle Umstände des kleinen Patienten sollten dabei berücksichtigt werden, dazu zählt zum Beispiel das Alter oder wie gut Antibiotika wirken.

Bei der Operation bestehe das Risiko, dass es zu Nachblutungen kommen kann. "Die Entscheidung für oder gegen eine Operation sollte daher zusammen mit Kinder- und Jugendarzt und HNO-Arzt getroffen werden", rät Rodeck.

Bei einer Mandelentzündung darf man also nicht generalisieren, sondern muss individuell je nach Patient entscheiden.