Berlin. Wer krankgeschrieben ist, möchte eigentlich in Ruhe gesund werden. Allerdings fühlen sich viele Patienten schikaniert, wenn das Telefon klingelt und die Krankenkasse anruft. Denn laut Patientenberatern drängen viele Krankenkassen immer häufiger ihre Versicherten zur Arbeit.
Seinen schweren Bandscheibenvorfall hatte der Mann nach acht Wochen noch nicht los. Doch seine Krankenkasse war misstrauisch. Sie forderte den Ingenieur auf, den Medizinischen Dienst der Kassen (MDK) aufzusuchen. Aufgrund des MDK-Gutachtens hob die Kasse die Krankschreibung auf - obwohl der Mann in seinem Job in leere Industrietanks klettern muss und seinen Rücken nicht schonen kann. Immer mehr - oft verzweifelte Versicherte - suchen laut Patientenberatern Hilfe, weil sie von ihrer Kasse wieder zur Arbeit gezwungen werden oder Leistungen nicht bekommen.
Der Fall des Rückenpatienten landete bei Judith Storf, einer Beraterin der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). "Bei uns rief dann der Arbeitgeber an", erzählt die in Bielefeld ansässige Storf. "Er sagte: Wir können das nicht zulassen, die Arbeit ist körperlich zu anstrengend."
"Die Krankenkassen gucken stärker hin, gerade bei Langzeiterkrankten"
Insgesamt mehr als 230.000 Mal urteilten MDK-Gutachter im vergangenen Jahr bundesweit, dass krankgeschriebene Arbeitnehmer eigentlich gar nicht mehr arbeitsunfähig sind - in 16 Prozent der untersuchten Fälle. Die Zahl der vom MDK geprüften Krankschreibungen sank zwar leicht von 1,54 Millionen Fälle im Vorjahr auf 1,47 Millionen. Die Entscheidung, eine attestierte Arbeitsunfähigkeit aufzuheben, fällt dann aber die Kasse. Und Daten dazu fehlen laut Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
"Nach dem Eindruck der Berater nehmen solche Fälle zu", sagt Storf. Dörte Elß, Beraterin der Verbraucherzentrale Berlin, meint: "Die Krankenkassen gucken stärker hin, gerade bei Langzeiterkrankten." Überraschend sei, dass Kassen auch schon nach wenigen Wochen kritisch nachhakten. Die GKV-Ausgaben fürs Krankengeld stiegen allein vergangenes Jahr von 8,5 auf 9,2 Milliarden Euro.
Krankenkassen unternehmen alle Anstrengungen zum Sparen
Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK, meint: "Wir haben den Eindruck, dass die Kassen unter dem Damoklesschwert der Zusatzbeiträge alle Anstrengungen zum Sparen unternehmen." Als 2010 die ersten Kassen gezwungen waren, den Obolus millionfach einzutreiben, lief ihnen die Kundschaft reihenweise weg. Und Gesundheitsökonomen und Kassenfunktionäre erwarten, dass die aktuellen GKV-Milliardenreserven bald dahinschmelzen.
Beim VdK werden auch viele vorstellig, die Hilfsmittel wie Hörgeräte nicht im beantragten Rahmen bekommen - oder auch eine Reha. Missstände sieht Mascher hier vor allem bei älteren Patienten: Statt Selbstständigkeit wieder zu lernen, kämen sie oft von der Klinik direkt ins Pflegeheim. "Die Krankenkasse muss eine Reha zahlen, den Nutzen hat aber die Pflegekasse", erläutert Mascher. "Das befördert nicht die Leidenschaft der Kasse, eine Reha zu zahlen."
"Wie lange dauert es denn, bis Sie wieder arbeiten können?"
Insgesamt 75.000 Beratungsgespräche wertete die UPD in ihrem im Sommer veröffentlichten Jahresbericht aus - der Verdacht in 4900 Fällen: Versicherten werden Leistungen, die ihnen zustehen, verwehrt.
Beim Krankengeld wird es laut Mascher besonders heikel, wenn es Druck gibt. Beraterin Storf: "Die Sachbearbeiter der Kassen fragen etwa: Wie lange dauert es denn, bis Sie wieder arbeiten können?" Es komme auch vor, dass Versicherte zu hören bekommen: "Stellen Sie sich nicht so an." Viele empfänden das als schikanös.
"Wie will der Arzt mich so schnell beurteilen?"
Auffällig für die Berater: die vielen Streitigkeiten bei psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout. "Die Krankheitsbilder werden häufiger infrage gestellt als zum Beispiel Darmkrebs", meint Storf. Das bedrücke Betroffene zusätzlich.
Die Kassen drängeln offenbar immer wieder anders. "Häufiger berichten Betroffene, dass Gutachten donnerstags in der Post sind - mit der Aufforderung, am Montag wieder arbeiten zu gehen", berichtet Storf. Für Widerspruch bleibe da wenig Zeit. Auch das Verhalten des MDK stößt oft auf Unverständnis: "Patienten berichten, der Gutachter habe ihn nur zwei, drei Minuten in Augenschein genommen und fragen sich: ,Wie will der Arzt mich so schnell beurteilen?'"
Peter Pick kennt die Vorwürfe. Der Geschäftsführer des Medizinischen Diensts des GKV-Spitzenverbands will zwar einzelne Fehler nicht ausschließen. "Wir führen unsere Begutachtungen sorgfältig durch", betont er aber. So liege dem Gutachter stets die gesamte Krankengeschichte des Versicherten vor, oft frage er auch beim behandelnden Arzt direkt nach.
Ärzte werden von ihren Versicherten bedrängt
"Leichtfertig krankgeschrieben wird in der Regel nicht", meint Judith Storf. Pick hält dagegen: "Ärzte werden auch immer wieder bedrängt von ihren Versicherten." MDK-Mediziner bekämen von den niedergelassenen Ärzten auch zu hören, der MDK solle über eine Krankschreibung entscheiden - nach dem Motto: Spielt Ihr den Bösen.
Der Mann mit dem Bandscheibenvorfall wurde für die Hartnäckigkeit seines Arbeitgebers belohnt. Die Beraterin machte seinen Arzt auf das Recht aufmerksam, ein zweites Gutachten bei einem MDK-Facharzt einzufordern. Judith Storf hörte nichts mehr von dem Mann - für sie ein Zeichen dafür, dass er Erfolg hatte und krankgeschrieben blieb.(dpa)