Berlin. Es ist wie eine Seuche: Tausende Patienten sterben in Deutschland jedes Jahr an Klinik-Infektionen – besonders betroffen sind Säuglinge, Schwerkranke und ältere Menschen. Hygiene-Berichte von Patienten und Pflegepersonal klingen mitunter haarsträubend. Liegt es am System?
Die Spur der Keime in deutschen Krankenhäusern ist lang, und manchmal endet sie tödlich: Mindestens drei Babys sind seit 2011 im Klinikum Bremen-Mitte auf der Frühchenstation gestorben. Rund 30 Todesfälle stehen seit 2010 am Uni-Klinikum Leipzig im Verdacht, auf das Konto eines multiresistenten Erregers zu gehen. Gleich zweimal geriet die Berliner Charité wegen Keimen in die Schlagzeilen. Warum sind deutsche Kliniken so anfällig für Krankenhausinfektionen?
"Achtung: Händedesinfektion". Beim Betreten der Frühchenstation im Berliner Virchow-Klinikum der Charité stolpern Besucher förmlich über diese hellgelbe, im Boden eingelassene Mahnung. Rechts neben der Tür fällt der Blick auf den Spender mit Desinfektionsmittel, halbvoll. "Wir haben den höchsten Verbrauch an der gesamten Charité, die Goldmedaille sozusagen", sagt Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie (Neugeborenenmedizin).
In blauer Schutzkleidung
"Die Eltern nehmen es damit sehr genau", berichtet Bührer. Nur einen Raum weiter liegen zwei winzige Frühchen. Eine junge Mutter steht neben einem Brutkasten, komplett in blauer Schutzkleidung, mit Mundschutz und Handschuhen. "Vorsorglich. Ich war letzte Woche etwas erkältet", sagt sie mit besorgtem Blick auf ihre kleine Tochter.
Freundlich und ruhig ist die Stimmung auf der Station. Die Erinnerung an die Wochen im vergangenen Herbst, als Serratienkeime bei mehr als einem Dutzend Babys der Klinik gefunden wurden und die öffentliche Aufregung hochkochte, scheint fast irreal. "Wir haben hier nicht geschlampt", betont Bührer. Doch nicht jede Ansteckung lasse sich verhindern. Das Gros der Keime, die im Krankenhaus Probleme machen, seien Bakterien. Sie lebten im Darm zahlreicher Menschen. Erst wenn sie in die Blutbahn oder in eine Wunde gelangen, droht eine Infektion. Gute Hygiene-Maßnahmen sollen das verhindern.
Bis zu 15.000 Tote
Das gelingt nicht immer. Das Bundesgesundheitsministerium geht von 400.000 bis 600.000 Patienten aus, die jedes Jahr durch medizinische Behandlungen Infektionen bekommen - und von bis zu 15.000 Toten. Manche Experten halten diese Zahlen noch für viel zu niedrig.
Die Achtsamkeit für das Einhalten der Hygiene-Regeln sei seit dem Herbst nochmals gewachsen, sagt Charité-Arzt Bührer. Eine spezielle Waschmaschine nur für die Säuglingswäsche wurde angeschafft. Räume, die bisher Platz für mehrere Inkubatoren boten, werden zu Einzelzimmern umgebaut. "Das sind teure, wichtige Maßnahmen, um die wir sonst kämpfen mussten. Aber jetzt ist es gegenüber der kaufmännischen Leitung leichter durchsetzbar."
Eine positive Folge der heftigen Tage im Oktober. Erst spät und zögerlich war die Charité mit dem Keim-Ausbruch an die Öffentlichkeit getreten. Zwar zeigte sich schließlich, dass die Serratien nicht für den Tod eines Kindes verantwortlich waren. Aber Überschriften von angeblichen "Killerkeimen" waren in der Welt - und vorschnelle Parallelen zu den toten Babys von Bremen. Sie sind nicht vergessen.
"Bakterielle Infektionen gehören zum Alltag"
Die Charité sieht sich zu Unrecht verurteilt. "Bakterielle Infektionen gehören zum Alltag auf einer Intensivstation", urteilt Bührer. Serratien seien sogar vergleichsweise harmlos. Sie sind gut mit Antibiotika zu behandeln. Doch auch für sie gilt: Über Ausbrüche, also mindestens zwei Infektionen mit dem gleichen Erreger, die in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang stehen, müssen Kliniken die Gesundheitsbehörden sofort informieren. Allein Berliner Krankenhäuser meldeten im vergangenen Jahr laut Charité 44 Keim-Ausbrüche.
Doch Ende Februar zeigte die renommierte Uni-Klinik, die größte Europas, einen neuen Ausbruch an, diesmal alles andere als harmlos: ein multiresistenter Keim des Typs Klebsiella pneumoniae (KPC). "Besorgniserregend", nennt das Petra Gastmeier, Leiterin des Hygiene-Instituts der Charité. Denn der Erreger macht schon zum zweiten Mal in deutschen Krankenhäusern Probleme. Den ersten Ausbruch bekam die Uni-Klinik Leipzig lange nicht in den Griff. Nach heutigem Kenntnisstand steckten sich rund 100 Menschen mit KPC an, 30 starben.
Zehn Prozent gelten als multiresistent
Zehn Prozent der Erreger von Krankenhausinfektionen gelten heute als multiresistent (MRSA), sie reagieren nicht auf gängige Antibiotika. Die meisten davon sind Wundinfektionen nach Operationen (225 000), einen geringeren Teil machen Entzündungen der Harn- und der Atemwege aus. "Wir schätzen, dass etwa ein Drittel dieser Infektionen vermeidbar sind", sagt Gastmeier.
Das Bewusstsein dafür, wie wichtig Hygiene ist, sei aber längst noch nicht überall vorhanden, berichtet die Forscherin. "Ich reise durch das Land und treffe in Krankenhäusern immer noch auf Ärzte, die von KPC noch nie etwas gehört haben." Dabei sind es einfache Maßnahmen, die das Problem an der Wurzel packen könnten. "Vom Händedesinfizieren halte ich eine ganze Menge", sagt die Hygiene-Expertin. Wer das zwei Minuten lang mache, senke die Keimbelastung statistisch gesehen von 100 000 auf weniger als eins.
Ein kleiner Hygiene-Fehler
Hygiene war für Anja Nimmsch (Name geändert) in den vergangenen Jahren wie eine Lebensversicherung. Mehrere Jahre hat die 43-jährige Nierenkranke ihre Bauchfelldialyse selbst organisiert, zu Hause. Ein kleiner Hygiene-Fehler und sie hätte sich eine Infektion eingehandelt. Im Herbst 2012 bekommt Nimmsch in der Berliner Charité erfolgreich eine neue Niere transplantiert. Sie ist dankbar. Und doch möchte sie etwas zum Thema Hygiene im Krankenhaus sagen.
Es war ihr erster Tag nach der Transplantation. Ihr Immunsystem ist künstlich heruntergefahren, damit der Körper das fremde Organ nicht abstößt. Dieses Austricksen der Natur hat seinen Preis: Die Infektionsgefahr durch Keime, Viren und Pilze steigt extrem an. Für die Klinik-Hygiene bedeutet das: höchste Alarmstufe.
Mundschutz aufsetzen
Nimmsch liegt auf der Intensivstation. Am frühen Morgen kommen ein Pfleger und zwei Handwerker in ihr Zimmer. "Sie sagten, dass sie jetzt die Fliegengitter vor den Fenstern auszutauschen hätten." Sie ist schlaftrunken und perplex. Der Pfleger rät ihr, einen Mundschutz aufzusetzen und die Bettdecke bis zum Kinn hochzuziehen. "Dann hat einer der Handwerker das Fenster aufgerissen, ein Fliegengitter aus dem Rahmen genommen und über meinem Bett dem Kollegen gereicht." Am Gitter habe der Dreck des ganzen Sommers geklebt.
Nimmsch wirkt nicht wie eine Nörglerin. Sie beobachtet beim Thema Hygiene nur sehr scharf. Reinigungskräfte hätten mit einem Lappen zuerst die Stoßkanten und die Fensterbank des Zimmers gewischt und direkt danach den hölzernen Esstisch für Patienten, sagt sie. Später bittet sie einen Arzt vor einer Untersuchung, sich die Hände zu desinfizieren. Er hatte vorher die Türklinke ihres Zimmers angefasst. "Er wirkte schon ziemlich pikiert", sagt sie. Erst als sie ihre Dialyse-Erfahrung anführte, habe der Mediziner freundlich eingelenkt.
Wenig um Hygiene gekümmert
Es habe viele Ärzte gegeben, die sich wenig um Hygiene kümmerten, sagt Nimmsch. Es sei nicht nur der Zeitdruck gewesen. "Manche wirkten, als hätten sie aufgrund ihrer höheren Stellung automatisch weniger Keimbelastung." Ein Hierarchiephänomen, von dem auch Pfleger berichten.
Hat Anja Nimmsch jedes Mal protestiert? "Nein. Ich war in dieser Patientenrolle. Ich wollte auch vertrauen." Nach rund zehn Tagen in der Klinik werden bei ihr zwei Darmkeime festgestellt - einer davon multiresistent. Ein Antibiotikum schlägt an - aber Nimmsch muss wegen des Keims länger in der Klinik bleiben als geplant.
Es geht ums Geld
Spätestens das ist der Punkt, den Klaus-Dieter Zastrow - neben dem Leid für Patienten - einfach nicht mehr versteht. Denn da geht es ums Geld, Lieblingsthema einer jeden Klinik-Geschäftsführung. Zastrow ist Hygiene-Facharzt für die acht Berliner Vivantes-Kliniken, den größten kommunalen Krankenhauskonzern in Deutschland. "Es ist erstaunlich, dass viele Kliniken das nicht begreifen: Sie haben mit guter Hygiene höhere Erlöse", sagt Zastrow. Denn für jeden Tag, den ein Patient über die Fallpauschalen hinaus im Krankenhaus bleibe, zahlten die Krankenkassen nicht. Führt mangelnde Hygiene zu einer Infektion, geht die längere Behandlung also in der Regel auf Rechnung der Klinik. "Dabei kostet gute Hygiene kaum Geld. Und die Kassen zahlen dafür. Alles andere sind Märchen", behauptet Zastrow.
Er ist auch Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene und gilt in Fachkreisen manchmal als sehr drastisch. Das könnte daran liegen, dass er sich gern lautstark aus dem Fenster lehnt. Zastrow spricht von 40.000 Toten und einer Million Klinik-Infektionen pro Jahr. Für ihn ließ sich die Hälfte aller Fälle vermeiden. "Die Hauptgründe sind Unsicherheit, mangelnde Ausbildung und menschliches Versagen. Das zusammen ergibt eine tödliche Mischung", sagt er. "Das sind keine Keime, die im Krankenhaus an der Wand kleben. Sie kommen von uns, vom Arzt, von der Schwester, von Besuchern und vom Patienten selbst." Niedrigere Zahlen seien politisch geprägt. "Sie sollen das Problem kleinreden."
Kritik am Hygiene-Konzept
Zastrow kritisiert das Hygiene-Konzept der Charité. Er sagt auch, dass die Uni-Klinik Leipzig völlig unfähig sei, Hygiene zu machen. Er geht so weit, dass ihn die eigene Klinikleitung fragte, ob ein solcher Keimausbruch nicht auch bei Vivantes möglich sei. Dann sagt Zastrow: "Die ersten drei Fälle haben wir auch. Aber nicht noch weitere 20. Wir sind dann sofort auf der Station und machen da eine Riesendesinfektionsnummer."
Auf der Vivantes-Intensivstation im Stadtteil Spandau sieht Pfleger Mark Ronkowski aus wie ein Mondmensch: Haarnetz, Mundschutz, Einwegkittel, Schuhüberzieher, Handschuhe. Dabei will Ronkowski nur kurz in ein Isolierzimmer, in dem ein Patient mit multiresistentem Keim liegt. Kommt der Pfleger heraus, wandert die Schutzkleidung in den Sondermüll. So sollte es sein. Ist es immer so? Hinter vorgehaltener Hand ist bei Vivantes zu hören, dass dieses System Grenzen hat. Dass die Regeln kaum noch einzuhalten seien, wenn 40 Prozent der Patienten im Isolierzimmer lägen. Weil diese Umkleidezeiten - zwei bis fünf Minuten jedes Mal - in die Dienstpläne nicht eingerechnet seien und man dann einfach mehr Personal brauche.
Aus Sparzwang stellen abgebaut
In der Charité, die in fünf Jahren aus Sparzwang mehr als 1000 Stellen abbaute, sieht das Bild nicht anders aus. Manchmal sind Schwestern oder Pfleger im Nachtdienst auf normalen Stationen de facto allein für 31 Patienten da. "Wenn davon zehn in Isolierzimmern liegen und dann noch jemand stürzt oder stirbt - in dem Stress hätte ich Verständnis dafür, wenn die Händedesinfektion zu kurz kommt", sagt Pfleger Stephan Gummert.
Hygiene sei wie eine Kette
Hinter vorgehaltener Hand ist in der Charité zu hören, dass der Sparzwang mitunter zum Kauf von "Billigramsch" führe - Kittel, die schon beim Anziehen einrissen oder schlecht verschweißte, undichte Katheterbeutel. Hygiene sei wie eine Kette, betont Gummert. Zu ihr gehörten nicht nur Ärzte und Pflegepersonal, sondern auch Reinigungskräfte und Belüftungstechniker. "Wenn da eine Schraube nicht gepflegt wird, bekommt das ganze System ein Problem."
Gummert ist im Charité-Personalrat. Er liest Patientenbeschwerden. Hygiene-Rügen zögen sich wie ein roter Faden durch die Fragebögen, sagt er. Trotzdem werde immer weiter an jeder Schraube gedreht. Putzfrauen müssten zum Beispiel immer mehr Quadratmeter in immer weniger Zeit reinigen. "Das alles ist ein Risikospiel", urteilt er. Für ihn endet es in einem Schlüsselwort: Patientensicherheit. Gibt es kein Umdenken? "Die Negativpresse in der letzten Zeit hat die Sinne geschärft", sagt Gummert. Muss immer erst etwas passieren?
Bewusstsein für Hygiene schaffen
Ein Bewusstsein für Hygiene zu schaffen ist wohl die größte Aufgabe für Hygiene-Experten. Manchmal dauert es Jahre, eine Klinik darauf einzuschwören. Dabei geht es dann nicht allein um Technik und saubere Arbeitsabläufe wie bei der Sterilisation des OP-Bestecks. Es geht vor allem um fähiges Fachpersonal - und Strukturen.
"30 Jahre lang war Hygiene egal, das wird auch an den Unis nur dünn gelehrt", sagt Karen Hammer, Hygiene-Ärztin in Ausbildung bei Vivantes. "Bei Verstößen gegen Hygiene-Vorschriften fehlt es mir auch an Konsequenzen. Ich habe noch keine Köpfe rollen sehen. Strafzahlungen fände ich auch sinnvoll." Hammer findet aber auch, dass sich das Bewusstsein langsam ändert. "Aber als Arzt lernt man von den Kollegen, das hängt also sehr vom Ausbilder ab." In der Pflege ist das anders. Hygiene ist in der Ausbildung fest verankert.
Amtsärzte sollen Kliniken kontrollieren
Und es gibt noch ein wichtiges Rädchen im Hygiene-Getriebe: die Amtsärzte. Sie gehören zu den kommunalen Gesundheitsämtern und sollen die Kliniken kontrollieren. Kein leichter Job. Wie sollen sie einschätzen, ob eine Klinik bei Infektionszahlen mogelt oder nicht - und ob sie jeden Keim-Ausbruch wie vorgeschrieben meldet?
Wie es besser laufen kann, zeigen seit Jahren die Niederlande. Dort kommt kein Patient in den OP oder auf eine Station, bis er nicht auf multiresistente Keime gecheckt ist. Ein Schnelltest dauert eine Stunde und kostet laut Facharzt Zastrow 20 Euro. In Deutschland gilt diese Vorsichtsmaßnahme nur für "Risikopatienten". Die Niederlande überwachen außerdem streng die Antibiotika-Verordnungen. Auch das senkt die Resistenzrate.
Auf der Charité-Frühchenstation setzt man auch nach den Fällen im Herbst auf enge Teamarbeit mit den Eltern. "Ein Krankenhaus ist keine Kadettenanstalt", sagt Arzt Bührer. Neben ihm hat eine zweite junge Mutter ihr Frühgeborenes auf der bloßen Brust liegen - Hautkontakt ist wichtig fürs Baby. Bestenfalls ist eine Klinik eben kein Ort, an dem man krank wird. Patientin Nimmsch hat den Glauben daran verloren. Sie wünscht sich strenge Auflagen bis hin zu Schutzkitteln für alle Besucher. "An Keimen sterben Menschen", sagt sie. (dpa)