Essen. Die Pflanze Stevia könnte zu einer neuen Erfolgsgeschichte in der Ernährung werden: Das Extrakt ihrer Blätter ist gesünder als Zucker, sogar süßer und noch dazu nahezu ohne Kalorien. In immer mehr Lebensmitteln taucht es auf. Doch nicht jeder mag die spezielle Süße.

Wunderzucker, Schlankmacher, Traum jeder Kaffeetafel – es gibt neuerdings in Deutschland ein Produkt zu kaufen, das fast wie eine Lebensmittelrevolution gefeiert wird: Stevia, auch bekannt als Honigkraut. Die Versprechen der Konzerne klingen ähnlich süß, wie der Geschmack des Markt-Neulings sein soll: So gut wie keine Kalorien, vom Kariesverdacht freigesprochen, dafür aber natürlichen Ursprungs. Stevia ist eine Pflanze, die in asiatischen oder südamerikanischen Ländern schon viele Jahre das süße Leben leichter macht. Den Produzenten des klassischen Zuckers dürfte das angesichts der neuen Konkurrenz allerdings eher bitter schmecken.

20 Produkte gibt’s schon

Stevia kommt schon wenige Monate nach der Markteinführung in Deutschland so gut an, dass viele Hersteller nun eilig in ihre Experimentierküchen laufen, um mitzuziehen, um also ebenfalls mit Stevia-Extrakten gesüßte und damit figurfreundliche Produkte auf die Verbraucher loszulassen. Um die 20 solcher Artikel sollen derzeit in deutschen Supermarktregalen stehen.

Joghurt, Getränke und Schoko

Angefangen beim Streupulver, das beispielsweise „Natreen“ anbietet und mit dem man mit etwas Geschick und Mut zum Experimentieren auch backen kann – Zucker bietet ein anderes Volumen und weniger Süßkraft. Von „Andechser“ gibt es Bio-Joghurt Stevia, „Fritz-Cola“ hat früh mit einer neuen Brause mitgezogen, und bei Nestlé werden Schoko-Rezepturen ausprobiert. „Coca-Cola“ lässt ausgewählte Verbraucher in Deutschland ein erweitertes Sortiment testen. In anderen Ländern sind diese Getränke bereits auf den Markt geschüttet worden. „In Frankreich ist unsere Stevia-Fanta Still Tropical zum Produkt des Jahres 2011 gewählt worden“, sagt Stefanie Effner, Sprecherin von Coca-Cola Deutschland.

Dabei schaut die EU in diesem Punkt eher brummig Richtung Paris, denn die Franzosen haben sich über die EU-Absprachen hinweggesetzt und schon vor einer gemeinsamen Markteinführung zum Dezember 2011 Stevia in ihre Supermärkte getrickst.

Sieht so ähnlich aus wie Minze

Viel Wirbel um ein kleines Pflänzlein, das im unverarbeiteten Zustand so ähnlich aussieht wie Minze oder Zitronenmelisse. Experten können den Enthusiasmus um den Zuc­kerersatzstoff, der auf Verpackungen als Nummer E 960 ausgewiesen ist, durchaus nachvollziehen. Dr. Udo Kienle zum Beispiel. Der Agrarwissenschaftler der Universität Stuttgart-Hohenheim ist so etwas wie der Chefgärtner der deutschen Stevia-Freunde. Er hat schon zu einer Zeit an dem Gewächs geforscht, als andere Zucker noch für ein Zahlungsmittel hielten.

„Die Konzerne müssen sich nun zwangsläufig mit dem neuen Produkt beschäftigen. Unsere Gesellschaft steht vor Problemen: viele Menschen sind zu dick oder leben zu ungesund. Mit Stevia kann man Kalorien sparen“, sagt Kienle. Der Verbraucher bringe einer pflanzlichen Süße ohnehin mehr Vertrauen entgegen als chemischen Stoffen. Wobei auch beim Stevia-Extrakt nicht alles Natur pur sei. Um aus den Blättern der Pflanze eine benutzerfreundliche Substanz zu isolieren, seien diverse Prozesse nötig.

Manche mögen den Geschmack nicht

Und es gibt da noch einen Haken: Denn Stevia löst längst nicht bei jedem Genießer eine „Hmmm lecker“-Reaktion aus. Kienle hat im Auftrag seiner Uni Geschmackstests durchgeführt: „Einige mögen Stevia, andere nicht.“ Die Industrie arbeite daran, den Geschmack zu verbessern, vor allem, indem sie die pflanzliche Süße mit anderen Süßungsmitteln kombiniert.

Ernährungsexperten bestätigen diese unterschiedlichen Empfindungen. So auch Dr. Thomas Hulisz, der in Bochum das Adipositas-Zentrum der Augusta-Krankenanstalten leitet. Hulisz sagt: „Stevia wird von Verbrauchern zunächst als süß und dann als bitter empfunden. Man schmeckt, dass es kein Zucker ist.“ „Lakritzig“ finden manche den Geschmack.

Geeignet für Diabetiker

Aus ärztlicher Sicht gerät der Bochumer aber ins Schwärmen, nimmt sogar das Wort „Wundermittel“ in den Mund. Denn gesundheitlich sei Stevia unbedenklich und auch für Diabetiker geeignet. Er selbst empfehle die Stevia-Süße gerne stark übergewichtigen Patienten.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit rät allerdings, täglich nicht mehr als vier Milligramm des puren Extrakts pro Kilo Körpergewicht aufzunehmen. Weil es noch keine Studien zu den Auswirkungen bei dauerhafter Überdosierung gibt, also lieber die Nummer sicher.

300-fach stärkere Süßkraft

Jeder Deutsche verbraucht im Jahr etwa 40 Kilo Zucker. Stevia wird mit seiner bis zu 300-fach stärkeren Süßkraft den herkömmlichen Zucker in nächster Zeit zwar nicht vollständig ersetzen, wohl aber teilweise, davon geht das Deutsche Institut für Ernährungsforschung aus. Worin sich also alle Experten unterm Strich einig sind: Gegen Zucker ist ein Kraut gewachsen.