Essen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Jahren von 1955 bis 1969, stieg die Geburtenrate in Deutschland drastisch an. Die Generation der Babyboomer war geboren. Ein Blick auf die Gewohnheiten und Lebensumstände von Menschen, die es nicht gewohnt sind, allein zu sein.
Christian wollte eigentlich in die Politik gehen, die Welt retten. Mindestens aber die Gerechtigkeit, den Frieden und die Umwelt. Das war um 1980 herum – und heute, mit 49, bewohnt Christian eine Villa in einem noblen Vorort von Frankfurt und sammelt Millionen für Fonds ein. Dabei fliegt er im Jahr so oft um die Welt, dass das mit der Umwelt auch nicht mehr ganz so wichtig sein kann. Und das Elend, das er am Rande mitbekommt, auch nicht.
Christian gehört zur Generation der Babyboomer, das sind in Deutschland die Geburts-Jahrgänge von 1955 bis 1969: Jener Jahre, in denen es nach dem Zweiten Weltkrieg unaufhaltsam aufwärts ging, auch mit der Zahl der Neugeborenen. Bis dann 1965 die fünf Jahre zuvor auf den Markt gekommene Antibabypille dafür sorgte, dass die Geburtenrate immer weiter sank, ab 1970 dann unter den Stand von 1955. Der geburtenstärkste Jahrgang der gesamten Bundesrepublik kam 1964 auf die Welt, mit 1.357.304 Lebendgeborenen (zum Vergleich: im vergangenen Jahr waren es nur noch halb so viele, fast genau, nämlich 673.544).
Wenn die Statistiker die ‘64er-Zahl ein Allzeithoch nennen, kommt es den Betroffenen eher so vor als solle damit Schönwetter gemacht werden. Sie haben mit dieser Massenhaftigkeit in ihrem Leben nicht immer nur wohlige Gefühle verbunden. Überall, wo sie hinkamen, gab es schon ganz viele von ihnen. Im ihrem Kindergarten, der zu Recht noch so hieß, weil Zucht und Ordnung herrschten, wurde über Gruppenstärken nicht mal nachgedacht – heute hingegen wird bei mehr als 25 Kindern Katastrophenalarm ausgelöst. In den Schulen der Babyboomer waren Klassengrößen von über 40 eher die Regel als die Ausnahme. Und an ihren Universitäten waren Studiengänge, Seminare und Vorlesungen so überlaufen, wie es später dann erst wieder bei den Abiturienten sein sollte, die sich nach zwölf oder dreizehn Jahren als „Doppeljahrgänge“ einschreiben mussten.
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Irgendwo zwischen '68ern und Generation Golf
So sah sich die Generation Babyboomer, die irgendwo zwischen den ‘68ern und der konsumistischen Generation Golf anzusiedeln sein dürfte, in ihren Lebensentscheidungen nicht selten zu Kompromissen genötigt, zu Konzessionen und Ausweichmanövern. Oder zum Durchsetzen um jeden Preis. Der wohl größte Unterschied zu den ‘68ern: Man wuchs auf in dem Bewusstsein, dass Arbeitslosigkeit zum Massenphänomen wurde. Und dass – seit der Energiekrise von 1973 – der wie selbstverständlich erlebte, weil seit Geburt vorhandene und wachsende Wohlstand nunmehr an einem seidenen Faden hing. Er befand sich in Händen der ölproduzierenden Länder, die nur den Hahn zudrehen mussten, um in Europa für menschen- und autoleere Autobahnen zu sorgen; er hing aber auch ab vom verschwenderischen Umgang mit den endlichen Ressourcen der Natur, deren Erschöpfung der Club of Rome in seiner Weltwirtschaftsstudie „Grenzen des Wachstums“ an die Wand gemalt hatte.
Axel, Jahrgang 1963, wollte eigentlich Künstler werden, Maler. Aber als er das Abi hatte, war Beuys, der ja alle aufnahm, die an der Düsseldorfer Kunstakademie studieren wollten, längst gefeuert. Man musste sich allerorten bewerben, mit Mappen eigener Arbeiten, musste konkurrieren mit anderen. Axel hat das gescheut, mit seinem Einser-Abi musste er nicht einmal im Studienfach Psychologie mit seinem Hammer-Numerus-Clausus warten. Heute ist Axel Professor. Und seit ein paar Jahren erforscht er wenigstens, warum Menschen etwas schön finden, wenn sie etwas schön finden. Wer denn wohl eines Tages mal den Nutzen von solchen Forschungsergebnissen haben wird, fragt Axel nicht.
Wegbeißen – oder ausweichen: Die Babyboomer haben zwei Strategien entwickelt, mit der lebenslangen Erfahrung der schier unendlichen Masse von Gleichaltrigen um sich herum fertig zu werden. „Bluffer, Poseure, extrovertierte Persönlichkeiten, Selbstdarsteller, Narzissten haben in geburtenstarken Jahrgängen Hochkonjunktur“, sagt Rolf Haubl, Chef des Sigmund-Freud-Instituts an der Universität Frankfurt, der die Mentalität dieser Generation erforscht hat. „Die zweite Möglichkeit: Ich halte mich bedeckt, bleibe unsichtbar, denn mit der Größe der Masse wächst proportional die Angst, sich öffentlich zu blamieren, verlacht und verspottet zu werden“.
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Wer weder über die Kraft noch über das Durchsetzungsvermögen oder gar den Willen zur Macht verfügte, wurde – flexibel. So verbohrt die ‘68er in der Theorie waren, was Ideale, Urteile und Ziele anging, so lehrreich war ihr praktisches Scheitern beim lautstark angekündigten Marsch durch die Institutionen. Durchgesetzt hatten sie am Ende ja nicht Politisches, sondern eine in der Tat überfällige Befreiung auf mentaler Ebene: Die letzten Bastionen des Autoritären und Verklemmten, des „Miefs von tausend Jahren“ im Alltag waren gestürmt, der Anspruch einer freiheitlichen Gesellschaft schien mehr denn je Wirklichkeit zu werden.
Die Mitte der Gesellschaft
Das so lautstark angegriffene politische System aber hatte sich unter den Angriffen der protestierenden Studenten und erst recht angesichts der bombenden Terroristen eher stabilisiert, als dass es in Gefahr geraten wäre. Die Babyboomer waren die erste Generation, die mit der bürgerlichen Demokratie als dem selbstverständlichen, quasi naturgegebenen politischen System und seiner Vernünftigkeit aufwuchs.
So gingen sie nicht gegen die Gesellschaft an, sondern darin auf. Veränderungen waren nur im Detail nötig – nicht gleich die ganze Bundeswehr oder die Nato sollte weg, sondern die Atombewaffnung. Nicht die ganze Wirtschaft sollte anders organisiert werden, sondern nur ihre offensichtliche Schädlichkeit für die Natur. Und selbst jene Babyboomer, die die Welt verbessern wollten, wussten allemal: Nicht nur das Wachstum hat Grenzen, sondern auch die Macht des Einzelnen, selbst wenn er sich zu Gruppen zusammenschloss und selbst wenn diese Gruppen groß waren. Ihre sozial- und umweltverträgliche Devise: Leben und leben lassen.
Sie wurden nicht extrem, nicht radikal, sie wurden die Mitte der Gesellschaft. Und pragmatisch. Erst recht, als sie dort, wo sie sich politisch engagierten, so etwas wie Ohnmacht erlebten: Weder stoppten die 300.000 Friedensbewegten 1981 im Bonner Hofgarten die amerikanischen Atom Raketen auf deutschem Boden – noch verhinderten die zahllosen Proteste gegen die Atomkraft, dass Atommeiler wie Brokdorf in Betrieb genommen wurden und in Gorleben die Vorbereitungen für ein „Endlager“. Als Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre dann doch das Aus für den Schnellen Brüter in Kalkar und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf verkündet wurde, hatte das keine politischen, sondern finanzielle Gründe: Der Betrieb der Anlagen wäre unrentabler gewesen als ihr Stopp.
Der Sozialpsychologe Rolf Haubl zieht aus seinen Beobachtungen die Diagnose, dass sich die Generation Babyboomer für die Indifferenz entschieden habe, für eine Flexibilität in Fragen der moralischen und politischen Haltung, die mitunter an Gleichgültigkeit grenzt, aber damit nicht verwechselt werden sollte. Indifferenz sei „eine Haltung, mit der man sich vor Enttäuschungen am besten schützt. Wer keine Ziele hat, wird nicht enttäuscht, wer sich nicht vornimmt, die Gesellschaft zu verändern, kann auch nicht enttäuscht werden, wenn sie sich nicht verändern lässt.“
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Genau das hat Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und gelegentlich auch Demografie-Hysteriker („Das Methusalem-Komplott“), der Babyboomer-Generation zum Vorwurf gemacht. Als Schirrmacher (54, also selbst Babyboomer) aus dem Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff (54, also ebenfalls Babyboomer) das Symptom seiner gesamten Generation herauslesen wollte, kam er zu dem Schluss: „Ihre Skepsis gegenüber Ideologien war wohltuend, aber nur, solange man nicht bemerkte, dass dahinter die Abwesenheit von Ideen überhaupt stand. Ihr Fehler war zu glauben, dass Märkte auch schon Ideen sind. Ideen setzen sich nicht durch wie Starbucks-Kaffee oder Popkultur. Anders gesagt: Es war die Kauf-, nicht die Überzeugungskraft der Babyboomer, die das Antlitz der Gesellschaft veränderte. Sie musste für ihr Lebensgefühl, ihre Musik, ihre Mode, ihre Sprache nicht kämpfen – im Gegenteil: Es waren Antriebsaggregate für Märkte, die ganz schnell die ganze Gesellschaft erfassten. Die Autorität der Eltern und Lehrer der frühen Siebziger, die vielleicht Fetzenjeans verbieten wollen, weicht nichts so sehr auf, wie die Läden der globalen Modekette um die Ecke.“
Ein bisschen Yesterday
Selbst die Werbestrategen richten ihre Fühler nach der Generation Babyboom aus: Als die noch jünger war, galten die 14- bis 49-Jährigen als entscheidende Zielgruppe für Marketing-Kampagnen. Heute sind mit einem Mal die 48- bis 67-Jährigen die wichtigste kommerzielle Zielgruppe, an die geburtenstarken Jahrgänge gehen vier von fünf Neuwagen, die in Deutschland verkauft werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass sie jährlich 500 Milliarden Euro ausgeben und über die Hälfte der gesamten deutschen Kaufkraft verfügen. Und sie sind die erste Generation, die selbst in der Popkultur, in der doch die Jungen, die Revoluzzer für ständige Innovation sorgen, den Ton angibt. Und der Ton klingt immer ein bisschen nach Yesterday.
Eigentlich wollte Armin, Abi ’83, Deutschlehrer werden. Er hatte ja selbst, wie er fand, den besten der Welt, weil der nicht nur Versmaße und korrekte indirekte Rede lehrte, sondern Skepsis, Urteilsfreude und Selberdenken. Doch schon vor der Einschreibung in der Uni war klar, dass die Welt noch eine ganze Weile lang keine Deutschlehrer mehr brauchen würde. Die meisten, die alle nötigen Prüfungen dafür absolviert hatten, fuhren jetzt Taxi. Also entschied sich Armin gegen das Staatsexamen für eine Laufbahn als Deutschlehrer und für den weit weniger aufwändigen „Magister Artium“ in Germanistik. Heute hilft er in der Medienbranche dabei, den Mainstream durchzusetzen. Als er neulich seinen alten Deutschlehrer wiedertraf, wirkte er ein wenig erschrocken.
Der Markt als Wirtschaftsmechanismus, die repräsentative Demokratie als politischer Entscheidungsweg: Beides kommt der Babyboomer-Generation sehr entgegen, weil dort immer Mehrheiten entscheiden. Und die Mehrheit, das sind sie inzwischen oft. Ja sie sitzen längst an den Schalthebeln der Macht, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur. Sie, die noch bis zu 16 Monaten „gedient“ und bis zu 24 Monaten Zivildienst geleistet haben, verlängerten mit der Abschaffung der Wehrpflicht stillschweigend die Lebensarbeitszeit der Jüngeren um ein bis anderthalb Jahre. Die Verkürzung der Schulzeit für Gymnasiasten bedeutet ebenfalls eine Verlängerung der Arbeitszeit wie die schon früher eingeführte Verkürzung der Studiendauer um durchschnittlich ein Jahr.
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Die Babyboomer waren seit dem 19. Jahrhundert die erste Generation, die zahlenmäßig stärker ist als die Generation nach ihnen. Und in deren Namen, über deren Lebensgefühl hat die „Zeit“-Autorin Anita Blasberg (Jahrgang 1977) eine Polemik über die Erfahrung geschrieben, dass die Babyboomer alle erdenklichen Karriere- und Entscheidungswege der jüngeren Generation blockieren.
In Fürsorge zerrissen
Längst hat sich dort auch der etwas preiswert zu habende Argwohn breitgemacht, die Babyboomer würden das große Problem dieser Generation auf Kosten der Jüngeren lösen. Jene Masse von Menschen, die ihnen jetzt noch zu Macht und Einfluss verhilft, wird ja spätestens dann zum Problem, wenn sie in Rente geht. Die ersten Babyboomer schnuppern schon daran. Der geburtenstärkste Jahrgang 1964 wird, Stand heute, im Jahr 2031 der erste sein, dessen Rente sich am Eintrittsalter von 67 Jahren bemisst. Dann wird jeder dritte über 65 sein – Tendenz steigend. Schon jetzt haben manche Babyboomer das Gefühl, zerrissen zu werden zwischen der Fürsorge für die eigenen Eltern und der für die Kinder. Das wird sich in Zukunft eher noch verschärfen.
Neulich haben sich Armin, Christian und Axel mal wieder zum Wandern getroffen. Man hängt vielleicht noch ein bisschen mehr an denen von früher in dieser Generation, das macht es bei so vielen Menschen im gleichen Alter ein wenig übersichtlicher. Beim Wandern sind sie drauf gekommen, dass der eine gar keine Kinder hat – und die anderen beiden zusammen gerade mal drei haben, von denen sie nicht glauben und denen sie auch nicht zumuten möchten, dass sie sich im Alter um ihre Eltern kümmern. Sie werden genug damit zu tun haben, das Geld für die Rentner zu erwirtschaften. Also haben sich Armin, Christian und Axel überlegt, wie das wäre, später mal einen gemeinsamen Alterssitz zu haben, im Süden, wo die Sonne die Gelenke wärmen kann, versteht sich. Mit zugekaufter Hilfe beim Haushalt und, wenn nötig, auch bei der Pflege. Denn es ist vor allem ein Gedanke, der den Babyboomern Unbehagen bereitet: allein zu sein.