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Das Internet bietet viele Möglichkeiten, doch birgt es auch Gefahren. Vor allem die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt immer mehr. WAZ-Geschäftsführer Bodo Hombach warnt in seinem Essay über die Verlockungen des "süßen Gifts" der Gerüchte:

Aus dem Jahr 1953 stammt die Zeichnung „Das Gerücht“ von A. Paul Weber. Da schwebt ein schlangenartiges Ungeheuer durch die nächtliche Straße einer Großstadt.

Der Kugelkopf hat steil aufgerichtete und gespitzte Ohren, die Augen starren gierig geradeaus. Der riesige Hinterleib zerfasert zu einer Wolke aus Augen und Ohren, die sich in winzige, abstürzende Menschen verwandeln. Die gespenstische Szene umrahmen normierte Häuserwände mit unzähligen kleinen Fenstern, in denen sich Menschen zeigen, die das Spektakel aufgeregt genießen und gleich die nächsten Opfer sein werden. Würde Weber seine Zeichnung heute anfertigen, nährte sich sein Gerüchtemonster nicht aus Fenstern, sondern Bildschirmen.

Die Welt ist Wille und Vorstellung

Schon die Sprache enthüllt viel. Man „setzt ein Gerücht in die Welt“, als wäre es ein Lebewesen, das nun eigene Wege geht, wächst, sich vermehrt und sich um seinen Erzeuger nicht mehr kümmert. Das wissen die Historiker: Die Geschichte wird weniger von dem bestimmt, was tatsächlich geschehen ist, als wovon die Leute meinen, dass es geschehen sei. Die Welt ist Wille und Vorstellung, wie schon Schopenhauer vermutete. Da kein Mensch in der Lage ist, alle Fakten zu kennen und richtig einzuschätzen, muss er sich vieles zusammenreimen. Das ist das Einfallstor für Gerüchte, Schummeleien und Lügen. Es ist auch der Tummelplatz für Schwindler, Aufschneider und Demagogen.

Am 29.09.2010 überreichen die Karrikaturisten Thomas Plaßmann (links, für NRZ) und Arnd Hawlina (rechts, für Westfälische Rundschau) Arbeiten an den Geschäftsführer der WAZ, Bodo Hombach (Mitte). Hombach wird den Organisatoren der Berliner Ausstellung
Am 29.09.2010 überreichen die Karrikaturisten Thomas Plaßmann (links, für NRZ) und Arnd Hawlina (rechts, für Westfälische Rundschau) Arbeiten an den Geschäftsführer der WAZ, Bodo Hombach (Mitte). Hombach wird den Organisatoren der Berliner Ausstellung "Gerüchte" die Arbeiten zum Thema schenken. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Auch wer Zugang zu den Fakten hat, ist noch nicht vor dem Gift der Gerüchte gefeit. Diese sind nämlich oft ein „süßes“ Gift, wenn sie unsere Vorurteile bedienen oder unseren Interessen entgegenkommen. „Die Gewohnheit macht unsere eigenen Beweise zu den stärksten, die wir auch am festesten glauben.“ (Pascal) Es gibt eine Theologie der Wiederholung. Wer sein Glaubensmantra oft genug wiederholt und fleißig seine Gebetsmühle dreht, glaubt am Ende die absurdesten Dinge. Jede Wiederholung eines Gerüchts oder einer Lüge macht sie glaubhafter. Man gewöhnt sichgefährlich schnell. Das Erstaunliche wird alltäglich, das Verrückte erscheint normal, das Verbotene erlaubt.

Mit dem Internet ist zusätzlich zur klassischen Öffentlichkeit eine zweite entstanden

„Bös Gerücht nimmt immer zu, / Gut Gerücht kommt bald zur Ruh.“ Das hat der Volksmund entdeckt. – Mit dem Internet schwindet die Hoffnung gegen Null, dass böswillige Gerüchte eines Tages gelöscht oder vergessen werden. Nicht vergessen können, ist die unmenschlichste aller Eigenschaften, und es ist ein Wesensmerkmal des „www“. Ganze Kulturen und Völker gehen an der Unfähigkeit zugrunde, die Gerüchte ihrer Geschichte zu verarbeiten, d.h. sie auf kreative Weise zu vergessen. Dafür bieten Konfliktherde wie der Nahe Osten, der Balkan und der Kaukasus blutige Beispiele.

Mit dem Internet ist zusätzlich zur klassischen Öffentlichkeit (Marktplatz, Straße, Verein, Schule) eine zweite entstanden (Handy, Bildschirm und Tastatur). In der ersteren galten früher noch gewisse Regeln des Anstands und der Höflichkeit. Sie hatte eine zivilisierende Wirkung. Heute ist auch sie einer ständigen Niveauabsenkung unterworfen. In der Öffentlichkeit II kann man sich hemmungslosgehen lassen. Man meint privat und unter sich zu sein, agiert aber im Angesicht der ganzen Welt. (Sloterdijk: „Man hängt die Klotür aus und meint, das sei der neue Mensch.“)

Gerücht, Fälschung, Lüge waren schon immer probate Mittel, Macht zu erobern und auszubauen. Wer einen Krieg gewinnen oder um jeden Preis nach oben kommen will, darf sich nicht mit der Wahrheit plagen. Die jesuitische Maxime „Das Ziel heiligt die Mittel“ bringt sehr unheilige Mittel hervor. Man hält die erstbesten Gründe für die Urgründe. Die Wahrheit hat es schwerer als die Lüge. In einem sowjetischen Flüsterwitz fragte man Stalin, warum die Parteizeitung „Prawda“ heiße, wo doch jeder Satz darin eine Lüge sei. „Ganz einfach“, war seine Antwort, „die Wahrheit ist selten, schwer zu finden und einsam. Die Lüge ist massenhaft verfügbar, und die Genossen fressen sie mir begierig aus der Hand. Der Name der Zeitung macht ihnen dabei ein besseres Gewissen.“

In der Literatur spielt das Gerücht eine enorme Rolle

In der Literatur und vor allem auf der Bühne spielt das Gerücht eine enorme Rolle. Die Intriganten, Kuppler, Hochstapler und Schwindler spielen virtuos auf dieser Klaviatur. Man schwärzt an, lässt scheinbar absichtslos fallen, spinnt ein raffiniertes Netz oder schweigt gezielt im richtigen Moment. Das Opfer ist ahnungslos wie Ödipus oder Othello, wütet gegen sich selbst und scheitert auf dem geraden Weg in einer Welt, die nur krumme Wege, Labyrinthe und Sackgassen kennt. Thomas Manns Roman vom Hochstapler „Felix Krull“ ist ein einziges Gerücht auf höchstem Niveau.

Die gute Recherche ist der Tod des Gerüchtes

Die Medien spielen hier eine sehr wichtige Rolle. Sie sind im Wettlauf um die beste Schlagzeile. Sie personalisieren und skandalisieren gern die Ereignisse. Sie treiben die Dinge auf die Spitze und kommen sehr schnell außer Atem. Sobald das Feuerwerk erloschenen ist, jagen sie die nächste Sau durchs Dorf. Das wichtige Thema bleibt unerledigt zurück. Qualitätsmedien sollten dieses Spiel nichtmitspielen. Von ihnen erwartet man saubere Recherche und Gegencheck. Die Recherche kann vom Gerücht angestoßen werden. Aber die gute Recherche ist der Tod des Gerüchtes. Sie widerlegtes, modifiziert es oder bestätigt es. Ihr geht es um die Wahrheit. Sie ist bereit zur Normalität, und Tempo ist ihr nicht der höchste Wert. „Es stand in der Zeitung“ – das könnte ein Gütesiegel sein, wenn das Blatt ordentlich arbeitet.

Jeder religiöse Glaube beruht im Grunde auf einem Gerücht

Wenn sich religiöse Befindlichkeiten einmischen, wird es ganz schwierig, denn jeder religiöse Glaube beruht im Grunde auf einem Gerücht (es gäbe diesen oder jenen Gott). Dieses aber gilt den Anhängern als Sinn ihres Daseins, der Geschichte und der Welt. Auch Polemik ist Teil der Meinungsfreiheit. Das Persönlichkeitsrecht und die Grundpositionen der Verfassung ziehen allerdingsgewisse Grenzen. Das Gerücht von der Auschwitzlüge steht unter Strafe, und das mit Recht. Unser Land hat zu schwer bezahlt für die Erkenntnis, dass man den Demagogen nicht das Feld überlassen darf.

Ein durchgeknallter Sektenpastor will ein Exemplar des Koran verbrennen. Realistisch betrachtet vernichtet er ein Pfund Papier und beweist damit nur, dass Papier brennbar ist. Der Inhalt des Buches ist weiterhin in Millionen Exemplaren verfügbar. Brennendes Papier ist auch kein Argument gegen seinen Inhalt. Es ist nur der unwiderrufliche Beweis für die vernagelte Dummheit des Brandstifters. – Aber nun hängt es die Web-Seite der Sekte im Internet an die ganz große Glocke, und so wird ein weltweites Gerücht daraus. Die Gier nach Beleidigtsein muslimischer Fanatiker, der Popanz vom Scheitan Amerika, die Angstfalle der westlichen Welt blähen das nichtige Ereignis ins gigantisch Dämonische auf.

In unserer Gesellschaft ist das Siebente Gebot eine aussterbende Kategorie

Die Soziologen unterscheiden zwischen der „Schuldgesellschaft“ und der „Schamgesellschaft“. Die erstere ist die höhere Entwicklungsstufe. Man unterlässt das Böse, weil es böse ist und anderen schadet. Man fürchtet die „Wunde des Gewissens“, wie das der Heilige Ambrosius nannte. In der „Schamgesellschaft“ ist quasi alles erlaubt, was mir und meiner Sippe nützt, ich darf mich nur nicht erwischen lassen. Aus dem preußischen „Üb immer Treu und Redlichkeit“ wird dann „Man kann’s ja mal versuchen. Vielleicht geht alles gut.“ – Wenn nicht alle Anzeichen täuschen, fallen wir geradeaus der höheren Stufe auf die primitivere zurück.

Gegen diesen Trend anzugehen, wäre ein edler Daseinszweck für eine verantwortungsbewusste Presse. Wenn Korruption in jeder Form nicht mehr fürchten muss, erwischt zu werden, dann sollte man die Koffer packen. In unserer Gesellschaft ist das Siebente Gebot („Du sollst nicht lügen.“) eine aussterbende Kategorie. Klassische Tugenden wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Redlichkeit finden verblüffte Bewunderer nur noch im Sinne von „Was ist denn in den gefahren?“ Wer sich lange genug in den höheren Etagen der Wirtschaft, der Politik und wohl auch der Kirchen getummelt hat, geht nicht ohne Narben, ohne schmerzliche Erkenntnisse und ein gewisses Waschbedürfnis bezüglich eigener Fehlgriffe daraus hervor.

Jede bewusste Falschmeldung ist eine Lüge

Jede Pressemeldung, die nicht sorgfältig recherchiert und gegengeprüft wurde, ist ein Gerücht. Jede bewusste Falschmeldung ist eine Lüge. Es gehört zum Werkzeugkasten eines Journalisten, der seine Leser ernst nimmt (denn sie sollen ja auch ihn ernst nehmen), dass er die entsprechenden Techniken beherrscht und über die geeigneten Netzwerke verfügt. Mehr noch: Er muss ein Rückgrat habenund nicht nur eine Wirbelsäule. Dabei weiß er: Die einzige und endgültige Wahrheit ist immer der Irrtum ihrer Verkünder. Auch mit den schärfsten Augen und dem besten Willen sehen wir - wie uns Platon überzeugt hat - nur Schatten auf der Höhlenwand.

Damit ein Gerücht Wirkung hat, muss es glaubhaft erscheinen. Das heißt: Es muss der Wahrheit zumindest entfernt verwandt sein. Die raffiniertesten Lügen bewegen sich ja auch ganz nah entlang der Wahrheit. Man glaubt einem Gerücht, wenn man ihm glauben will. Es bestätigt vielleicht ein Vorurteil oder deckt sich mit unseren Interessen. Es ist als hätte man’s schon immer gewusst. Niemand verliert gern ein Vorurteil. Gegen alle Vernunft klammert man sich daran, weil es die Welt so schön ordnet. Es ist pure Schmerzvermeidung, aber auf die Dauer verzieht sich das Rückgrat und irgendwann kommt die geistige Querschnittslähmung.

Aus dem Gerücht wird ein mehrgängiges Gericht

Verantwortungslose und Demagogen schüren Vorurteile, anstatt sie abzubauen. Sie setzen Gerüchte in die Welt, und wenn diese dann durch die Talkshows im Kreis gelaufen sind und via Medien zurückkehren, verkünden sie laut: „Seht, so denkt das Volk!“. Der schlaue Gerüchtekoch kennt diese Mechanismen. Wie ein richtiger Koch muss er gar nichts Neues schaffen, sondern nur die gegebenenRohstoffe auf raffinierte Weise mischen, würzen, hier etwas dämpfen, dort etwas betonen. Mit den richtigen Geschmacksverstärkern kann nichts mehr schiefgehen. Er kann sich ja auch aufden Appetit oder sogar Hunger der Kundschaft verlassen. Aus demGerücht wird ein mehrgängiges Gericht. Ein Tross von Paparazzi und Spannern umschleicht die „Royals“ und füttert das Volk mit Nichtigkeiten.

Wahlkämpfe werden nicht mit Wahrheiten gewonnen, sondern mit Hoffnungen. Das ist zunächst gar nicht bedenklich, denn Hoffnung ist ein Zeichen von Vitalität und nicht das Ergebnis des Nachdenkens über kluge Argumente. Hoffnungslosigkeit ist ja auch der kleine, enge und selbst gewählte Rahmen, über den wir nicht hinausblicken. Warum also sollte eine Partei den Menschen nicht die Hoffnung geben, dass sich etwas zum Besseren wendet! – Gefährlich wird es erst, wenn es in betrügerischer Absicht geschieht. Wenn reines Machtkalkül dahinter steht. Wenn mit den Sorgen und Nöten der Leute ein zynisches Spiel getrieben wird.

Jede Laudatio, jeder Nachruf verbreitet ein Gerücht

Ein Wahlplakat kann keine komplexen Probleme darstellen. Es kann bestenfalls Signale geben, ein Bild, eine Parole. Von einer Zeitung erwarte ich mehr. Viel mehr. Sie soll mir Fakten liefern, auchmeine Erinnerung auffrischen. Sie soll mir Übersicht und Durchblick verschaffen. Sie soll die Komplexität der Wirklichkeit klug und verantwortungsvoll reduzieren, damit sich die Komplexität meines Urteils vergrößert. Das klingt wie ein Widerspruch, ist es aber nicht.

Jede Laudatio, jeder Nachruf verbreitet ein Gerücht. Haben wir nicht alle ein Gerücht von uns selbst, das wir ein Leben lang erzählen? Wir verbreiten uns begeistert und tricky als „edel, hilfreich und gut“ (Goethe) und wissen doch sehr genau von unseren Schwächen, Egoismen und Kleinlichkeiten.

„Die kriechende Mittelmäßigkeit kommt weiter als das geflügelte Talent. Der Schein regiert die Welt, und die Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne.“ Mit diesen Worten schließt Schillers „Parasit“. In einem seiner Filme spielt Adriano Celentano einen intriganten Menschenfeind und widerlichen Kotzbrocken. Aber in einer Szene schwärmt sogar er von sich selbst: „Ich bin ein liebenswürdiger und umgänglicher Mensch. Wenn ich Freunde hätte, würden die das sofort bestätigen.“