Essen. Aus humanistischer Sicht ist Ludwig Baumann der Prototyp eines Menschen: Er konnte nicht töten, er brachte es einfach nicht über sich. Baumann ist der letzte noch lebende Deserteur aus dem Zweiten Weltkrieg.

Ludwig Baumann konnte nicht töten. Nicht, weil er damals, als Deutschland der Welt an die Gurgel ging, pazifistische Literatur gelesen, Bertha von Suttner, Carl von Ossietzky oder Kurt Tucholsky studiert hätte. Ludwig Baumann konnte gar nicht lesen, war Legastheniker. Als ein ganzes Volk mordete, quälte oder einfach nur wegschaute, wenn die Nachbarn abtransportiert wurden, nur weil sie Juden waren, wollte – konnte – Baumann nicht mitmachen. Ganz einfach. Baumann ist kein Held. Er ist der letzte Deserteur – einer der ganz wenigen, die dem Fallbeil der NS-Justiz entgangen sind, und der einzige, der noch lebt.

Zehn quälende Monate in der Todeszelle

Für viele war das Dritte Reich ein Albtraum. Für Ludwig Baumann ist es das heute noch und wird es wohl bis ans Ende seiner Tage bleiben. „Ich träume nachts davon, immer noch. Dann öffnet jemand die Zellentür, und ich werde zur Hinrichtung geführt.”

Das erzählte der heute 87-Jährige vor 20 Jahren. Damals, als er nach einem Vortrag über die Wiedergutmachung an Deserteuren des Zweiten Weltkriegs bei uns übernachtete. Und das erzählt er heute bei einem Wiedersehen in Dortmund, wo er als Vorsitzender der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Justiz eine Ausstellung eröffnen darf.

Baumann hat zehn quälende Monate in einer Todeszelle verbracht. Mit schweren Ketten an Händen und Füßen gefesselt, immer mit der Gewissheit, dass seine letzte Stunde geschlagen hat. Er wusste nicht, dass sein Todesurteil am 20. August 1942 zu zwölf Jahren Zuchthaus umgewandelt worden war, weil sein Vater, ein Tabakgroßhändler, seine Beziehungen zum Militär hatte spielen lassen.

"Ich konnte keine Menschen umbringen"

Der Bremer wollte keine Stiefel putzen, nicht im Gleichschritt marschieren und erst recht nicht: Menschen töten. Der Marinesoldat wird nach der Besetzung Frankreichs einer Hafenkompanie in Bordeaux zugewiesen und beschließt im Frühjahr 1942, zusammen mit seinem Freund Kurt Oldenburg ins unbesetzte Frankreich zu fliehen. Als sie von einer deutschen Zollstreife erwischt werden, hätten sie sich freischießen können, sie hatten sich vorher Pistolen aus der Waffenkammer besorgt. Doch es ging einfach nicht. „Ich konnte keine Menschen umbringen.”

Von nun an ist Baumann Kriegsverräter. Und er soll es lange bleiben, weit über das Ende des Krieges hinaus. Kriegsverräter, ein Wort mit einem negativen Beiklang, für manche auch heute noch. „Dabei gibt es doch nichts besseres, als den Krieg zu verraten.” Damit meint Baumann jeden Krieg, den in Vietnam und auch den in Afghanistan.

Er vertrank sein ganzes Erbe

Baumann wirkt für seine 87 Jahre und all das Leid, das er erlebt hat, außergewöhnlich frisch. Auch dafür, dass er in den ersten Jahren nach seiner Freilassung Raubbau an sich getrieben hat. Er vertrank sein ganzes Erbe, kam oft nächtelang nicht nach Hause, obwohl er sechs Kinder hatte. Kein Alkoholiker, aber einer, der mit seinen schrecklichen Erlebnissen nicht fertig wurde.

Erst als seine Frau starb, übernahm er Verantwortung, brachte seine Kinder als Handelsvertreter mehr schlecht als recht durchs Leben. Und begann, sich für die Wiedergutmachung an Weltkriegsdeserteuren stark zu machen. Wiedergutmachung? Zuallererst galt es einmal, den Männern ihre Würde zurückzugeben. Die Wehrmachtsrichter hatten 30.000 Todesurteile verhängt, 20.000 wurden vollstreckt, nur 4000 „Kriegsverräter” überlebten. Aber erst 2002 hob der Bundestag Urteile gegen Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und Wehrkraftzersetzer auf – nach langem Widerstand vor allem aus konservativen Kreisen der Union. Baumann war bis dahin bei entsprechenden Debatten ein bekannter Gast im Parlament.

Er kämpft hartnäckig, aber mit Würde

Sein Kampf gegen das Unrecht an Männern wie ihn machte ihn bekannt in der ganzen Republik. So ist er auch regelmäßig dabei, wenn Denkmale für Deserteure eingeweiht werden, was lange Zeit überhaupt nicht möglich war. Erst 1986 errichtete eine Bremer Friedensinitiative einen Ort der Erinnerung. Am 1. September 1989, 50 Jahre nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, weihten Bonner Bürger ein kleines Mahnmal ein.

Auch im sächsischen Torgau wurde eine Gedenkstätte errichtet, dort, wo er als der letzte noch lebende Häftling der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Justiz gilt. Doch an gleicher Stelle wird auch der Gefangenen gedacht, die dort als ehemalige NS-Kriegsrichter eingesperrt waren – also die Peiniger von Opfern wie Baumann. Dagegen wehrt er sich mit aller Kraft, weshalb sich die Einweihung hinauszögert, noch immer. „Wenn wir es schaffen, in Torgau eine vernünftige Gedenkstätte hinzubekommen, dann hat sich das Kämpfen gelohnt”. Also kämpft Baumann weiter, auf friedvolle Art. Hartnäckig, aber mit Anstand und Würde.

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