Essen. Menschen aus der Mitte verzweifeln an Parteien und Kandidaten. Das Gespenst einer AfD-Kanzlerin 2033 geht um. Was Sorge macht – und was Hoffnung.

Trump will Grönland und den Gaza-Streifen haben, die AfD macht Hitler zum Kommunisten und CDU-Chef Merz macht die AfD zur Abstimmungssiegerin im Reichstag – die Welt steht Kopf, Deutschland verliert den Halt und das Wahlvolk die Orientierung. Denke ich, als eine intelligente junge Frau mir bei Kaffee und Kuchen sagt, manchmal wünsche sie sich einen König, der einfach regiert und macht, dass alles gut wird.

Ihr etwas zu ironisches Lächeln und die „Ich ergebe mich“-Geste mit den Händen verraten einen kleinen ernstgemeinten Kern des Gesagten, das so gar nicht zu ihr passen will. Warum wünscht sich eine 20-Jährige, die Typen wie Trump verabscheut, einen starken Mann an der Spitze unseres Landes?

Spitzenpolitiker lästern übereinander wie Schüler in Mobbing-Chats

Vielleicht, weil sie die Welt, in der sie groß geworden ist, also dieses wohlhabende, demokratische Land mit vergleichsweise gut funktionierenden Sozialsystemen, natürlich behalten will. Aber gleichzeitig das Gefühl hat, dass es seit Jahren eher schlechter als besser wird. Dass die Probleme, über die man sich bei Kaffee und Kuchen unterhält, von unserem scheinbar unverrückbaren System nicht mehr gelöst werden.

Die drei Kanzlerkandidaten und die -kandidatin: Robert Habeck (Grüne), Olaf Scholz (SPD), Friedrich Merz (CDU/CSU) und Alice Weidel (AfD).
Die drei Kanzlerkandidaten und die -kandidatin: Robert Habeck (Grüne), Olaf Scholz (SPD), Friedrich Merz (CDU/CSU) und Alice Weidel (AfD). © Shutterstock, AP Photo, Getty (2) | Montage Florian Gerke

Was ihr die übergroßen Gesichter von den Wahlplakaten herab an Sprüchen servieren, macht mein Gegenüber auch nicht zuversichtlich, dass sich daran so bald etwas ändert. Sie habe keine Ahnung, wen sie wählen solle. Die da auf den Plakaten findet sie alle unsympathisch. Und in Talkshows lästern alle immer nur über die anderen – dies etwa so niveauvoll wie in den Mobbing-Chats, die sie aus der Schule kennt und froh ist, nicht mehr ertragen zu müssen.

Einigermaßen verzweifelt sind auch der stramm konservative Landwirt, die rote Finanzbeamtin, der liberale Manager, die Gewerkschafterin und die politisch interessierte Kita-Auszubildende. Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen. Einen König wünschen sie sich zwar nicht, aber alle können mit den Protagonisten ihrer favorisierten Parteien wenig anfangen. Die vielen Gespräche mit sehr unterschiedlichen Menschen, die politisch hier und dort, aber alle in der erweiterten, schwarz-rot-grün-gelben Mitte stehen, zeitigen erstaunlich viele Parallelen. Was also soll man ihnen raten, um die Entscheidung fürs Kreuzchen am 23. Februar zu erleichtern?

Wie wollen Union, SPD und Grüne nach der Wahl noch miteinander reden?

Als Journalist empfiehlt man gerne Zeitungslektüre, Nachrichtensendungen und als Kür den Konsum von Bundestagsdebatten. Doch gerade die haben zuletzt bestehende Zweifel eher bestärkt und neue gesät. Im Herzen unserer Demokratie waren es die Protagonisten der Mitte, die aufeinander los gingen, als gäbe es kein Morgen. Also keinen Morgen nach dem Wahlsonntag, an dem zwei bis drei von ihnen miteinander über eine Koalition werden reden müssen.

CDU-Chef Friedrich Merz ist mit seinem Versuch, schon als Oppositionsführer durchzuregieren und seine Migrationspläne notfalls mit der AfD durchzuboxen, gescheitert. SPD und Grüne haben ihn gerne vor die Wand laufen lassen, wittern Rückenwind für den eigenen Wahlkampf. Am Ende gejubelt wurde im Bundestag nur rechtsaußen.

Merz wollte noch vor der Wahl als Oppositionsführer durchregieren

Für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nicht nur laut Altkanzlerin Angela Merkel die Wahlen entscheiden werden, war dies eine rabenschwarze Stunde unserer parlamentarischen Demokratie. Und für viele ein Grund, über ihr Kreuzchen nochmal nachzudenken oder darüber, gar nicht wählen zu gehen.

Laut einer Forsa-Umfrage hadern zwei von drei Wahlberechtigten noch mit ihrer Entscheidung, knapp ein Drittel ist völlig unentschlossen, darunter vor allem Menschen, die sich selbst in der Mitte verorten. Was es laut Forsa noch nie gab: Die Zahl der Unentschlossenen stieg zuletzt, je näher der Wahltag rückt. Das ist normalerweise genau umgekehrt – und spricht weder für überzeugende Kandidaten noch für den richtigen Ton bei ihren Auftritten.

Das klingt auch bei denen durch, die sich entschieden haben, „nach harten inneren Diskussionen“, wie ein Ingenieur sagt. Er hat eigentlich einen klaren Favoriten, aber aufgrund der fragilen weltpolitischen Lage wünscht er sich diesmal in erster Linie eine starke Regierung, die ihre Ziele auch durchsetzen kann. Ganz nach dem Motto: Hauptsache, es bewegt sich endlich irgendwas.

Ist die nächste Legislatur wirklich die letzte Chance für unsere Demokratie?

Die Menschen sind verunsichert, und nach unserer Wahrnehmung in der Redaktion viele Manager, Gewerkschafter und Politiker, mit denen wir in diesen Wochen sprechen, noch mehr. Ihnen dämmert: So unverrückbar ist unsere Demokratie gar nicht mehr. Was wir von ihnen über die kommende Legislatur immer wieder hören, ist die mahnende Metapher von der letzten Patrone, dem letzten Schuss oder von jenen, die es weniger martialisch mögen, von der letzten Chance für unsere Demokratie. Alle eint diese beschwörende Forderung: Unsere nächste Regierung muss richtig abliefern, um eine Machtübernahme der Höcke-Partei 2029 oder – noch symbolträchtiger – 2033 zu verhindern.

Die beiden starken Männer in den USA, Donald Trump und Elon Musk, lassen auch hierzulande bei manchem den Wunsch nach einer starken Hand an der Regierungsspitze aufkommen.
Die beiden starken Männer in den USA, Donald Trump und Elon Musk, lassen auch hierzulande bei manchem den Wunsch nach einer starken Hand an der Regierungsspitze aufkommen. © AFP | JIM WATSON

Dieses Unwohlsein wird durch die Weltnachrichten der vergangenen Wochen und Monate bestärkt. Die älteste Demokratie der Welt bröckelt. Über Nacht herrscht in den USA das Recht des Stärkeren. Ein einzelner Mann herrscht und duldet keinen Widerspruch. Wer das wagt, wird als linksradikaler Idiot abgestempelt. Trump teilt sein Land und die ganze Welt in Gut und Böse ein. Gut sind er und alle, die ihm blind folgen. Der Rest ist böse, darunter auch Verbündete wie Deutschland und Dänemark, das sich weigert, ihm Grönland zu geben. Ja, der Mann wurde demokratisch gewählt, aber was er tut und vorhat, ist ganz und gar autokratisch.

Warum eine Jungwählerin und ein Ingenieur sich eine starke Hand wünschen

Die deutsche Jungwählerin mit ihrer halbironischen Sympathie für eine Monarchie will keinen wie Trump, der zelebriert seinen Führerkult auf eine für sie abschreckende Weise. Aber der Wunsch nach einer starken Hand ist da. So wie beim Ingenieur mittleren Alters und in vielen westlichen Ländern auch. Nachdem der Versuch, die Demokratie westlicher Prägung in alle Welt zu exportieren, vielerorts gescheitert ist, steckt sie selbst in der Krise.

Demokratien werden, außer durch Kriege, immer von innen zerstört. Was bedeutet, dass sie sich selbst zerstören, dass Demokraten es zulassen, dass Antidemokraten stärker werden als sie. Durch politisches Versagen, Ignoranz gegenüber der eigenen Bevölkerung, Selbstüberschätzung, Starrköpfigkeit, Eitelkeit, Bequemlichkeit oder andere Schwächen, die jede Partei und jeden Menschen wahrscheinlich mehr als einmal beschleichen. Gefährlich wird es, wenn alles zusammenkommt.

Dass sich Demokratien meist selbst zerstören, sollten wir in Deutschland wissen

In Deutschland weiß man das seit der Abwicklung der Weimarer Republik durch Hitlers Nationalsozialisten. Und tatsächlich schienen die demokratischen Parteien die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Sie alle distanzieren sich von der nationalistischen AfD, auch Merz, was der Sauerländer nach dem denkwürdigen Vorgang im Bundestag jetzt besonders betont.

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Doch was offenbar die wenigsten unter den bürgerlichen bis linkssozialen Politikern verstanden haben: Rhetorische Abgrenzung reicht nicht. Absichtserklärungen reichen nicht. Das größte Problem ist nicht die Existenz der AfD, sondern das fehlende Bewusstsein der demokratischen Lager dafür, dass sie eine gemeinsame Verantwortung für den Erhalt dieser Demokratie tragen. Dass es an ihnen liegt, die großen Probleme der Menschen und der nächsten Generationen so anzugehen, dass die Mehrheit ihnen vertraut – und nicht Leuten, die unser Land abschotten und die EU abschaffen wollen. Die damit unsere exportorientierte Wirtschaft implodieren lassen würden.

SPD, FDP und Grüne stehen für den Verlust an Kompromissfähigkeit

Stattdessen stehen die gescheiterten Ampel-Parteien für den Verlust der Kompromissfähigkeit unter Demokraten, was nicht weniger ist als die Grundvoraussetzung einer parlamentarischen Demokratie. Statt daraus zu lernen, hat die Union das in den vergangenen Wochen noch getoppt und es sich mit fast allen potenziellen Partnern verscherzt.

Deutschland sei die Diskursfähigkeit abhandengekommen, sagt der konservativ-liberal denkende Chef eines großen Familienunternehmens. Die sei aber der Kern einer Demokratie, entsprechend besorgt sei er.

Die Parteien verfallen in längst vergessen geglaubte Links-Rechts-Schemata, mit denen gerade junge Wählerinnen und Wähler gar nichts mehr anfangen können. Was zum Beispiel macht Klimaschutz links? Und warum ist Migrationspolitik rechts? Steht man selbst rechts, wenn die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre Sorgen und Ängste auslösen?

Ist eine Sozialarbeiterin mit Angst vor übergriffigen Migranten Links-Rechtsradikal?

Es gibt so viele Menschen, die in keinen der Stereotypen passen. Ein Krankenpfleger, der von einem libanesischen Clanmitglied verprügelt wird, hat sicher andere Motive für seine Vorbehalte als jemand, der seine Infos aus AfD-Tiktok-Videos oder Telegram bezieht. Und in welche Schublade packt man eine 22-Jährige, die schlechte Erfahrungen mit nordafrikanischen Jugendlichen gemacht hat, sich bei Fridays for Future für Klimaschutz einsetzt und in einem sozialen Beruf arbeitet? Links-Mitte-Rechtsradikal?

Gewaltsame Auseinandersetzungen mit Hunderten Beteiligten
Mit kriminellen Clanmitgliedern hat die Polizei im Ruhrgebiet, hier in Essen, sehr oft sehr große Mühe. In diesem Fall musste sie eine Massenschlägerei auflösen, gewaltsame Übergriffe gab es aber auch in Krankenhäusern bei einem wurden sechs Ärzte und Pflegekräfte verletzt. © DPA Images | Markus Gayk

Problematisch wird es, wenn Sprüche wie „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ nichts mit der eigenen erlebten Wirklichkeit zu tun haben, sondern von der Couch kommen. Etwa, wenn Wolfgang Bosbach (CDU) auf der Plattform LinkedIn ironisch rät, auf den jüngsten Messerangriff eines Syrers in Schwerte nur ja mit genügend Bestürzung und Mitleid zu reagieren, um nicht als Nazi abgestempelt zu werden. Hätte er doch die Angehörigen der Opfer in Aschaffenburg gefragt. Sie wünschen sich Ruhe, sind dankbar für die Anteilnahme – und verwahren sich gegen die Instrumentalisierung ihrer verstorbenen Liebsten, so wie die Familie des 41-Jährigen, der starb, als er sich zwischen Messer und Kinder warf.

Eine effektive Migrationspolitik passt auf kein Wahlplakat

Die Migrationspolitik ist eines der zentralen Wahlkampfthemen, die Mehrheit der Deutschen wünscht sich strengere Regeln. Merz’ Versprechen, mit seinem Vorstoß quasi über Nacht die Grenzen zu schließen und für Sicherheit in den deutschen Städten zu sorgen, war unseriös und deshalb nicht zu halten. Stattdessen werden die künftigen Koalitionäre gemeinsam eine effektivere Migrationspolitik erarbeiten müssen, die ganz sicher nicht auf Wahlplakate passt.

Im Kern geht es um drei Dinge, die alle Mitte-Parteien wollen: Eine Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen. Bessere Integration der Menschen, wozu auch die Behandlung psychischer Erkrankungen gehört, die vor allem Kriegsflüchtlinge mitbringen. Und die Ausweisung straffällig gewordener Zuwanderer.

Mit allen drei Punkten sind unsere Behörden seit zehn Jahren überfordert. Das hat viel mit Vollzugs-Defiziten, sprich überforderten Behörden zu tun. Und sehr wenig mit Ideologie. Drei Bundesregierungen haben sie dabei im Stich gelassen, mitregiert haben in dieser Zeit Union, SPD, FDP und Grüne. Wer von ihnen mit dem Finger auf andere zeigt, zielt immer daneben.

Eine Gewerkschafterin will zum ersten Mal nicht SPD wählen

Eine erfahrene Gewerkschafterin sagt, sie werde wohl zum ersten Mal nicht SPD wählen. Eine Finanzbeamtin, die sich selbst als „rote Socke“ bezeichnet, hat diesmal „keine Ahnung, wen ich wählen soll“, und sagt, was wir von vielen hören: „So schlimm war’s noch nie.“ Warum? Weil sie alle Spitzenkandidaten von Merz über Scholz bis Habeck „Horror“ findet.

Jenseits der Migrationsdebatte erleben wir einen klassischen Lagerwahlkampf. SPD-Spitzenkandidat Scholz zieht die soziale Karte, gibt bei Thyssenkrupp den Arbeiterführer und plakatiert neben sich - ernsthaft - den Slogan „Mit Sicherheit stabile Renten“. Merz verspricht ein Deutschland, auf das man wieder stolz sein kann. Die Liberalen versprechen weniger Staat und die Grünen die heile Welt. Das ist ganz alte Schule.

Symbolfotos Wahlkampf zur Bundestagswahl
„Mit Sicherheit stabile Renten“ verspricht Kanzler Olaf Scholz. Der letzte, der das sinngemäß plakatierte, war Norbert Blüm (CDU) und es begleitete ihn nicht im positiven Sinne bis zu seinem Tod 2020. © Michael Taeger/Jan Huebner | Michael Taeger

Für mehr Würze überziehen sich die Demokraten verbal mit gegenseitigen Ideologie-Vorwürfen, gegen Merz‘ Frauenbild der 50er-Jahre, gegen die Sozialromantik der SPD und gegen die grünen Klima-Ideologen. Eine Nummer kleiner täte es auch.

Merz ist kein Nazi und Klimaschützer sind keine Kommunisten

Merz‘ Frauenbild ist rückständig, aber weit weg vom Status einer Weltanschauung, an der er seine Politik ausrichten will. Und was macht Klimaschutz zur linken Ideologie? Auf der Weltklimakonferenz kämpfen Inselstaaten um ihre nackte Existenz und sitzen neben Mathematikern, die ausrechnen, wie viele Millionen Klimaflüchtlinge bald nach Europa fliehen werden. Die Megathemen Migration und Klima sind eng miteinander verwoben, sie entgegengesetzten Ideologien zuzuordnen, ist absurd.

Klare Kante zu zeigen, heißt für die meisten Spitzenpolitikerinnen und -Politiker inzwischen jedoch, nur noch in Schwarz-Weiß-Bildern zu sprechen. Sie wollen letzte Weisheiten präsentieren, für Zwischentöne, mittige Wahrheiten und kompromissfähige Spannen scheint kein Platz mehr zu sein. Das nervt die Finanzbeamtin genauso wie die Gewerkschafterin und den Unternehmenschef.

Ricarda Lang findet die Häme von Grünen und SPD gegen Merz „befremdlich“

Das spiegelt sich allerdings auch auf der Straße wider: Da demonstrieren Hunderttausende gegen Nazis und die AfD, gleichzeitig zuletzt vor allem gegen Merz. Als wäre der CDU-Chef ein Nazi. Auch das ist drüber – findet sogar die ehemalige Grünen-Chefin Ricarda Lang. Merz habe große Fehler gemacht, sagt sie zwar, „aber dieses fast hämische, wollte er nicht die AfD halbieren, höhöhö‘ von manchen aus meiner Partei und der SPD finde ich ziemlich befremdlich“, schreibt sie auf „X“.

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Der inflationäre Gebrauch der Ideologiekeule in der politischen Mitte führt dazu, dass die wirklich demokratiegefährdende Ideologie verharmlost wird: der auf Rassismus fußende und in weiten Teilen der Partei faschistisch verstandene Nationalismus der AfD. Sie einfach Nazis zu nennen, wie es neben Linken und SPD-Chef Lars Klingbeil auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) gern tut, entfaltet bei dem Ideologie-Gelärme der Demokraten untereinander schon gar keine Wirkung mehr.

Der inflationäre Gebrauch der Ideologiekeule verharmlost die der AfD

Nazis – na und? Unser Nachbar ist auch ein Nazi, der mäht jeden Samstag um 15 Uhr den Rasen, wie Nazi ist das denn? So wie Demokraten die vermeintliche Ideologie des politischen Gegners (selbst ist natürlich jeder völlig unideologisch) ins Lächerliche ziehen, so machen es Teile der jüngeren und mittleren Generationen auch mit der Nazi-Ideologie. Hinterfragen nicht, was ein Höcke mit seiner Forderung nach der „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ meint. Und wundern sich nicht, warum Weidel auf Fragen zu Höckes Gesinnung einfach nicht antwortet. Der angehenden Erzieherin ist das aufgefallen, sie weiß jetzt immerhin, wen sie nicht wählt.

Die AfD-Kanzlerkandidatin Weidel darf ungestraft sogar Geschichtsklitterung betreiben, darf Hitler zum Kommunisten umetikettieren und die eigene rechtsnationale Ideologie damit kurzerhand ihrer historischen Missliebigkeiten wie der Ermordung von sechs Millionen Juden entkleiden. Ohne, dass die AfD-Umfragewerte sinken. Nicht, weil die Leute Weidel das glauben, sondern offensichtlich, weil es vielen egal ist, solange die demokratischen Parteien nichts als gegenseitige Blockaden hinbekommen.

Dass die Demokraten Brandmauern gegeneinander bauen, ist nicht sehr demokratisch

Dazu passen die Brandmauern, die Demokraten zwischen sich selbst bauen: Söder will keine schwarz-grüne Regierung, weil er Habeck nicht mag. Kanzler Scholz schließt für sich ein Mitregieren unter Merz aus. Die grüne Jugend fordert den Ausschluss einer Koalition mit Merz, die Jusos denken in dieselbe Richtung. Unions-Kanzlerkandidat Merz schließt zwar nichts aus außer einer Koalition mit der AfD, aber mit seinem Vorgehen in der Migrationsdebatte betreibt er maximale Abschreckung gegen SPD und Grüne, mithin seine wahrscheinlichsten Partner. Wenn Merz ankündigt, was er alles am ersten Tag seiner Amtszeit ändern will, klingt er fast wie Trump. Nur wird in Deutschland kein Präsident gewählt, sondern ein Parlament, das eine Regierung bilden muss.

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Und die anderen Demokraten? Übernehmen amerikanische Wahlkampfrhetorik, verfallen in Trumpschen Absolutismus, etwa wenn CSU-Chef Söder Scholz den „peinlichsten Bundeskanzler, den Deutschland je hatte“ nennt. Schlagen Türen zu, etwa wenn SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich CDU-Chef Merz vorwirft, er habe „das Tor zur Hölle“ aufgemacht und sei untauglich fürs Kanzleramt, obwohl die Sozialdemokraten demnächst womöglich Koalitionsverhandlungen mit ihm führen müssen.

Lindner will von Musk siegen lernen - aber der spricht lieber mit Weidel

FDP-Chef Christian Lindner hat sich früh als Musk-Verehrer geoutet und damit als Fan eines demokratieverachtenden Milliardärs mit Allmachtsphantasien, wie man sie von den Superschurken der alten James-Bond-Filme kennt. Vor der Wahl haben sie alle auf die amerikanischen Demokraten gesetzt. Jetzt versuchen sie, von Trump und Musk siegen zu lernen. Doch bei der Amtseinführung hatten AfD-Politiker die prominentesten Plätze – und Musk macht für Weidel Wahlkampf.

Die letzte Patrone macht die Runde, wird sie nach dem 23. Februar in guten Händen sein?

Viele suchen den Ausweg in einem taktisch gesetzten Kreuzchen. Vier bis sieben Parteien kommen nach den aktuellen Umfragen für den Einzug in den Bundestag infrage, derzeit stehen FDP, Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht auf der Kippe. Wie viele Parteien draußen bleiben müssen, wird aber entscheidend sein für die Frage, ob es die ersehnte Zweier-Koalition überhaupt geben kann.

Unternehmer und Gewerkschafter: Bitte nur nicht wieder eine Dreier-Koalition

Nach dem Ampel-Desaster fürchten Demokratiefreunde, darunter Arbeitgeberspitzen, Gewerkschafter und Politiker, nichts mehr als eine weitere Dreier-Regierung, in der mindestens zwei Partner eher gegen als miteinander arbeiten. Dann, so die einhelligen Prognosen, würde die AfD noch stärker, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen.

Wenn aber die Umfragelage so vieles offen lässt und die demokratischen Spitzenkandidaten bei vielen eher Zweifel als Gewissheit auslösen, lohnt vielleicht doch ein Blick in die Themen, die einem wichtig sind, und auf die Thesen der Parteien dazu.

Lasst Euch überraschen! So wie ich von meinem 20-jährigen Gegenüber, das gerade noch gesagt hat, es wünsche sich einen König. Denn so demokratiefern das klang, so akribisch studiert sie, was die Prinzen und Prinzessinnen, die auf den Thron wollen, zu bieten haben. Und haut den nächsten Spruch raus: „Es sollten nur noch Leute wählen dürfen, die die Parteiprogramme gelesen haben.“ So wie sie. Den Wahl-O-Mat findet sie zu oberflächlich.

Taktisch wählen ist schwierig, wie wär‘s mit einem Blick auf die Programme?

Mir macht das Mut. Denn die letzte Patrone muss ja die Hoffnung tragen, dass sich die demokratischen Parteien doch noch ihrer Verantwortung gegenüber unserer Demokratie bewusst werden. Dass sich die Regierungsparteien bei den wichtigsten Themen so annähern, dass sie einer Mehrheit der Bevölkerung etwas anbieten können. In der Sozialpolitik, bei der Migration, beim Klimaschutz und nicht zuletzt in der Wirtschaftspolitik.

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Letztere bewegt sich seit Jahrzehnten immer in einem klar gesetzten Rahmen, den bisher alle demokratischen Parteien respektiert haben, auf ihm steht: Soziale Marktwirtschaft. Ihr Spielfeld ist groß genug für Kompromisse aller Art. Dabei gilt es, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Mal ist es richtig, das Soziale stärker zu betonen, mal ist es Zeit für mehr Markt.

Union, SPD und Grüne verbindet programmatisch viel mehr als sie uns glauben machen wollen

Merz hat hier mit seiner vom SPD-Altkanzler Schröder entliehenen „Agenda 2030“ einen prägnanten Akzent gesetzt. Schröders Agenda 2010 hat tatsächlich Deutschland vom Schlusslicht Europas wieder zur Lokomotive gemacht. Nach vier Merkel-Regierungen und der Ampel sind wir wieder Schlusslicht. Weder für SPD noch für die Grünen wäre ein neues Wirtschaftsprogramm tabu. Steuersenkungen wollen auch alle Parteien der Mitte, nur mit anderen Akzenten. Mut macht auch, dass sich Merz zuletzt positiver über die Migrationspolitik in den Wahlprogrammen von Grünen und SPD geäußert hat. Die Schnittmengen sind viel größer, als die Spitzenkandidaten glauben machen.

Entscheidend wird sein, ob die nächste Regierung bereit ist, auch so unpopuläre Entscheidungen zu treffen, dass sie sie wie einst Schröder die Wiederwahl kosten könnten. Und ob sie es schafft, die unangenehmen Wahrheiten gemeinsam zu vertreten und nicht jeder versucht, mit halbwegs heiler Haut davonzukommen. Die tiefe Krise einer Volkswirtschaft, die zwei Jahre Rezession hinter sich hat, wäre Grund genug für etwas mehr Mut und etwas weniger Parteitaktik und Karrierismus.

Kurzum: Es muss den Demokraten im Berliner Regierungsviertel wieder möglich sein, gemeinsame Ziele zu benennen und diese dann mit aller Entschlossenheit anzugehen. Sonst hat die parlamentarische Demokratie bald zurecht ausgedient. Und der Reichstag erlebt sein blaues Wunder.