Oberhausen. Eurodance vor der Europawahl: 20.000 Fans haben beim Festival „90er-live“ neben dem Centro Oberhausen gefeiert. Zwischen Hits wird es politisch.
Sie holen ihre Neon-Stulpen aus der Mottenkiste. Sie spülen komplexe Songtexte mit knarzenden Elektro-Beats aus dem Gedächtnis – und erinnern sich an die wohlige Zeit von Gameboy und bunten Leggings. Mehr als 20.000 Fans haben auf dem Freigelände hinter der Arena Oberhausen mit dem Großfestival „Die 90er-live“ eine riesige Zeitreise gefeiert. Mit erstaunlich fitten, schon in die Jahre gekommenen und komplett ausgetauschten Stars der Kinder- und Jugendzimmer-Ära. Die Stimmung ist am Samstag neben dem Centro Oberhausen bestens.
Und so wundert es nicht, dass Oli P. beim Blick auf die beachtlich gefüllte Festival-Fläche von „Flugzeugen im Bauch“ schwärmt. Der militärisch angehauchte Gaga-Rap von Captain Jack, dessen Frontmänner schon mehrfach wechselten, funktioniert mit der Initialzündung „Hey yo Captain Jack“ immer noch. Und mit Dr. Alban bohrt ein singender Zahnarzt aus Schweden ohne Betäubungsspritze in den Erinnerungen: von „Sing Hallelujah“ bis „It‘s my Life“.
90er-live in Oberhausen: 20.000 Fans feiern zehn Stunden Hits aus dem Jugendzimmer
Es ist eine Reise in die Leichtigkeit, als Songtexte keinen Anspruch auf Botschaft hatten, sondern eher auf unbekümmerte, mitunter naiv-spaßige Einfachheit setzten. Eigentlich hätte das Riesenfestival in Oberhausen mit sich drehenden Kirmes-Karussells und Popcorn aus der Tüte in der Juni-Sonne eine zuckersüße Angelegenheit bleiben können. Doch zum schallenden Eurodance gibt es einen Tag vor der Europawahl zwischendurch auch ein eindeutiges politisches Zeichen.
Der ehemalige Viva-Veteran Mola Adebisi moderiert die zehnstündige Open-Air-Fete. Aus den Boxen erklingt in einer Umbaupause „L‘Amour toujours“, ebenfalls in den 1990er-Jahren entstanden, genauer 1999, und vom italienischen DJ Gigi D’Agostino auf den Markt gebracht.
Es ist jener Song, dessen Melodie einige Partygäste auf Sylt über Pfingsten für Nazi-Parolen und rassistische Textpassagen wie „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ vereinnahmten. Es gibt Berichte über weitere Vorfälle. Seitdem haben einige Veranstalter wie die des Münchner Oktoberfests den eigentlich harmlosen Song-Ohrwurm aus Angst vor Nachahmern aus dem Programm verbannt.
90er-live in Oberhausen: Nach D’Agostino-Song singt Mola Adebisi „Schrei nach Liebe“
Die Macher von „Die 90er-live“ entscheiden sich in Oberhausen anders: Moderator Mola Adebisi erhebt nach dem abgespielten D’Agostino-Song selbst die Stimme. Aus den Lautsprechern schallt postwendend „Schrei nach Liebe“. 1993 von der deutschen Punkband „Die Ärzte“ als deutliches Statement („Du bist wirklich saudumm“, „Arschloch“) gegen Rechtsextremismus geschrieben. Adebisi singt die politischen Zeilen selbst. Der große Teil des Publikums reagiert umgehend und singt den Anti-Rassismus-Song mit. Das Echo ist gewaltig.
Veranstalter Markus Krampe spricht gegenüber unserer Redaktion hinterher Klartext und erklärt, warum er „L‘Amour toujours“ im Programm belassen hat: „Der Song ist eine riesige 90er-Hymne. Ich lasse nicht zu, dass ein Song von irgendwelchen Schnöseln und Vollpfosten missbraucht wird – und dadurch verschwindet. Da kann weder der Interpret noch der Song etwas dazu.“ Und weiter: „Dass wir danach direkt ‚Die Ärzte‘ gespielt haben: Ich glaube, das war deutlich!“
Hatte er vorher keine Angst, dass beim D’Agostino-Song auch auf dem Oberhausener Festivalgelände ausländerfeindliche Zeilen zu hören sein könnten? „Du hast hier eine große Masse, die du nicht im Griff hast. Es ist leider immer so, wenn ein paar Leute damit anfangen. Aber dem wollten wir entgegentreten. Ich habe zu den DJs gesagt: Fängt hier die Masse damit an, schaltet ihr sofort aus und ihr sagt: ‚Ihr seid genau solche Vollpfosten!‘ Aber so kam es nicht, alles war top. Man sieht, dass die Leute hier einfach nur feiern wollen.“